Der Ulmer Münsterplatz

© Stadtarchiv Ulm

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Münsterturm und Fassade des Stadthauses
Die Geschichte des Münsterplatzes haben Archäologen ausgegraben, bevor dieser am Ende des 20. Jahrhunderts neu gestaltet wurde. Kaum anderthalb Meter unter der Fläche, auf der jeden Samstag Rettiche und Kohlrabi verkauft werden, stießen sie auf Unmengen von Knochen. 64 Skelette stammen aus der Zeit, als Ulm entstanden ist, aus dem 7. bis 9. Jahrhundert. Waren es Alemannen, Franken oder beides, die hier bestattet worden sind? Zwei der Toten trugen Schwerter: Es waren Ritter aus der Merowingerzeit.
Wo hatten sie gelebt? In der Königspfalz auf dem Weinhof? Deren Befestigung reichte bis an den südlichen Münsterplatz heran. Doch der Platz selber lag außerhalb der schützenden Gräben. Deswegen waren die Handwerker, die hier lebten und in ihren Grubenhäusern arbeiteten, die ersten Opfer, als Welfenherzog Heinrich der Stolze 1131 während des salischen Erbfolgekriegs die Dörfer und Vorstädte der Stauferstadt in Schutt und Asche legte. Drei Jahre später brannte auch die Pfalz.
Doch rasch bauten die Staufer ihre damals wichtigste Stadt wieder auf, und kurz danach, noch im 12. Jahrhundert, erweiterten sie sie auf das Sechsfache ihrer bisherigen Fläche. Von da an befand sich der Platz, auf dem 200 Jahre später das Münster gebaut werden sollte, innerhalb des Stadtgebiets.
Die neue Befestigungslinie der Stadt im 12. Jahrhundert lief um die West- und Nordgrenze des Münsterplatzes, unterbrochen von dem wehrhaften und repräsentativen Löwentor. Seinen Namen hat es von zwei Steinlöwen, die über dem Tor eingemauert waren. Sie hüten heute das Untergeschoss des Stadthauses. Im Jahr 1229 kam der Bettelorden der Barfüßer nach Ulm. Er durfte sein Kloster neben dem Löwentor an die Stadtmauer bauen. Und kurz danach ließ sich in unmittelbarer Nähe auf dem heutigen nördlichen Münsterplatz eine klosterähnliche Frauengemeinschaft nieder.
Die Stadt wuchs damals gewaltig und wurde von 1316 an erneut erweitert – diesmal auf das Vierfache. Damit rückte der Münsterplatz in die geographische Mitte des neuen Stadtgebiets, wo neben den Klöstern der Mönche und Nonnen sehr weltliche Bad- und Schwitzstuben dampften. Südlich davon begruben die Barfüßer ihre Toten.
Die Badehäuser und das Nonnenkloster mussten weichen, als die Ulmer sich 1376 entschlossen, ihre außerhalb der Mauern gelegene Pfarrkirche in die Stadt zu holen. Ein Jahr später begannen die Bürger ihr gigantisches Bauvorhaben, mit dem sie ihren mittlerweile erworbenen Reichtum aller Welt vor Augen führten.
Der Münsterplatz wurde nun über anderthalb Jahrhunderte lang zur Baustelle. Auch wenn der Turm nicht vollendet wurde, dominierte das mächtige Münster die Stadt. Der Platz vor der Westfassade war, verglichen mit heute, relativ klein, denn das Kloster der Barfüßer nahm viel Raum ein. Sein Friedhof wurde 1526 aufgelassen und verschwand unter dem Pflaster. Ungefähr 500 Gebeine, die heute noch von der spätmittelalterlichen Sozialstruktur und von teilweise erbärmlichen Lebensumständen erzählen, wurden bei den Münsterplatzgrabungen 1986-93 freigelegt.
Der Löwenbrunnen sprudelte, von einer Wasserleitung gespeist, schon im 15. Jahrhundert. Der Kirchhof im Süden, Osten und Norden des Münsters, wo zunächst ebenfalls die Toten bestattet wurden, war von 1526 an Grünzone. Darin stand im Südwesten des Münsters ein prächtiger „Ölberg“ – eine Art Pavillon mit den Figuren von Jesus und den schlafenden Jüngern, den der nachmalige Münsterbaumeister Matthäus Böblinger 1447 geschaffen hatte. Nach Osten war der Münster-Kirchhof durch eine Reihe kleiner Kramläden zur Kramgasse hin abgegrenzt.
Der Münsterplatz lebte. Sein vom Marktgeschehen geprägter Alltag wurde die Jahrhunderte hindurch unterbrochen von kirchlichen wie weltlichen Prozessionen und militärischen Aufmärschen. Ein Bild aus dem Jahr 1677 zeigt die Parade der Fußtruppen des Schwäbischen Kreises. Militärparaden waren auch der Grund, warum der gotische Ölberg im Jahr 1807 abgebrochen wurde, nachdem Ulm bayerisch geworden war. Er stand im Weg. Damit begann eine Reihe gravierender Veränderungen, die dem Platz ein völlig neues Gesicht verliehen.
Nachdem Deutschland sich 1813 von Napoleon befreit hatte, brach eine Welle des Nationalismus und der Begeisterung für das Mittelalter aus. Das Ulmer Münster sollte als Nationaldenkmal vollendet werden. Und so wuchs es auf seine Rekordhöhe von 161,53 Metern. Das hatte gravierende Folgen für den Platz. Er sollte der neuen Dimension des Münsters angepasst werden: Das Barfüßer-Kloster musste verschwinden. Die kleinformatige Randbebauung wich urbanen Geschäftshäusern. Der Platz bot nun Raum für Jahrmärkte und die geeignete Kulisse für Massenaufmärsche – von Kaisers Geburtstag bis zu den Paraden der Nazis. Und die führten geradenwegs in den Krieg.

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Die Hirschstraße, die zum Münsterplatz führt, nach dem Bombenangriff 1944
Die Katastrophe brach am 17. Dezember 1944 über Ulm herein. Amerikanische und englische Bomber legten die Altstadt in Schutt und Asche. Der Münsterplatz reichte nun sozusagen bis zum Bahnhof. Die Umgebung des Münsters war zerstört.
Beim Wiederaufbau entbrannte ein wilder Streit darüber, wie sich die umstehenden Häuser zum Platz hin zeigen sollten: mit dem traditionellen Giebel oder der damals gepredigten Traufe? Der Giebel siegte; der Platzrand erhielt sein charakteristisches Sägezahn-Profil. Typische Produkte des Nachkriegs-Zeitgeistes waren zum einen der 1957 eröffnete Verkehrspavillon auf dem südwestlichen Münsterplatz und zum andern die autogerechte Stadt, die den Platz zusehends unter Blech begrub. Das Vorhaben, ihn für die Menschen zurückzugewinnen, stieß zunächst auf heftigen Widerspruch.

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Das Stadthaus ist seit 1993 beliebtes Fotomotiv in Kombination mit dem Münster.
Noch heftiger aber bewegte Ende der 1980er-Jahre die Neugestaltung des Platzes die Gemüter – wieder einmal. Denn das Problem der Münsterplatz-Gestaltung stand bereits im Raum, als der Barfüßer-Komplex in den 1870er-Jahren abgebrochen wurde. Das dadurch entstandene Vakuum tat, wie sich alsbald zeigte, auch dem nunmehr freistehenden Münster nicht gut. Mit der Frage, wie der Platz aussehen sollte, befassten sich von 1894 bis zum 1977 nicht weniger als sechs Wettbewerbe. Namhafte Architekten nahmen daran teil, so etwa 1924 Richard Riemerschmid, ein bekannter Vertreter des Jugendstils, und Hans Scharoun, der später mit dem Bau der Berliner Philharmonie internationalen Ruf erlangen sollte.
Doch wie schon bei den vorangegangenen Wettbewerben blieben auch deren Pläne Makulatur: Die Ulmer waren gegen großartige Bauwerke. Ihnen genügte eine kleine Wartehalle für die Straßenbahn, die seit 1897 auf dem Weg zwischen Hirschstraße und Platzgasse über den Münsterplatz rollte. Dieses Häuschen hieß im Volksmund das „katholische Bahnhöfle“ wegen der Ordensschwestern, die hier auf die „Funkeschees“ zum Zinglerberg zu warten pflegten.
Erst der Wettbewerb des Jahres 1986 sollte dem Münsterplatz eine neue Gestalt verleihen. Eingeladen waren zehn Architekten, und gewonnen hat der Entwurf des New Yorkers Richard Meier. Seine Pläne entfachten eine öffentliche Debatte, die mitunter die Züge eines Glaubenskriegs annahm: Von den einen wurden sie hymnisch umjubelt, von den anderen aber erbittert bekämpft.
So kam es im September 1987 zum Bürgerentscheid. Zwar votierten 53,5 Prozent derer, die zu dieser Abstimmung kamen, gegen Meiers Pläne. Aber am Entscheid hatten weniger Wahlberechtigte teilgenommen als seine Gültigkeit erfordert hätte. Damit war der Weg frei für den Bau des Stadthauses.

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Sonnenstrahlen auf dem Münsterplatz genießen
Das Stadthaus wurde 1993 seiner Bestimmung übergeben. Schritt für Schritt wurde danach auch der Platz ums Münster herum zeitgemäß gestaltet. Südlich davon fiel 1999 der 51 Jahre zuvor erbaute Münsterbazar, dann wurden die Nachkriegs-Baracken im Osten und im Norden beseitigt. Während die Flächen im Süden und Osten unbebaut blieben, entstand am Nördlichen Münsterplatz eine neue Ladenzeile.
Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts haben die Ulmer es somit geschafft, den Platz im Herzen ihrer Stadt zu einem urbanen Lebensraum zu gestalten, auf dem der Wochenmarkt ebenso zu Hause ist wie das Open-Air-Konzert mit Tausenden von Zuschauern. Und mit dem Bau des Stadthauses von Richard Meier war die Bresche geschlagen für eine Reihe weiterer Glanzstücke moderner Baukunst in der unmittelbar angrenzenden Neuen Mitte, mit der Ulm zu Beginn des 21. Jahrhunderts in die Architekturgeschichte eingegangen ist.
Text: Henning Petershagen