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Das Ulmer Münster

Höchster Kirchturm der Welt

Das Münster mit den umliegenden, vergleichsweise sehr niedrigen Häusern.

Mit einer Höhe von 161 Metern ist das Ulmer Münster die höchste Kirche weltweit. Es fasziniert rund eine Million Besucherinnen und Besucher jedes Jahr – durch seine Dimensionen, seine Kunst und seine Geschichte. Aber warum steht der Rekordhalter genau hier, nicht irgendwo anders?

Wo der höchste Kirchturm endet, schweigt die Welt. Nur der Wind zischt eisig durch die Spitzbögen und zarten Verzierungen aus Stein. Exakt 161,53 Meter misst der Turm des Ulmer Münsters. Dadurch ist er dem Himmel näher als jede Kathedrale und jeder Dom der Welt.

Von diesem Weitblick wagten schon die Menschen im Mittelalter zu träumen. Aus eigener Kraft wollten sie ihn Wirklichkeit werden lassen, ganz ohne das Geld eines Bischofs oder Fürsten.

Die älteste Chronik Ulms überliefert uns, wie die Bürgerinnen und Bürger den Grundstein legten. Blicken wir zurück auf den 30. Juni 1377. Es ist eine Epoche stürmischer Unruhen. Im vorherigen Herbst hat Kaiser Karl IV. die Stadt mit seinen Truppen belagert. Innerhalb der Stadtgesellschaft ringen die Handwerker und Händler mit dem Stadtadel darum, wer das Sagen hat. An diesem Tag aber kommen die Menschen feierlich im Herzen ihrer Stadt zusammen.

Eine riesige Baugrube zieht sich tief durch das Erdreich. Was hier erschaffen werden soll, hat solche Dimensionen, dass keiner der Anwesenden mehr am Leben sein wird, wenn es fertig wird.

Zum Klang von Musik und Gebeten setzt sich ein Felsblock in Bewegung. Jeder will mitanfassen: Die einen drehen das Rad, andere halten das Seil oder warten unten in der Grube. Unter ihnen ist der Altbürgermeister, der jahrelang auf diesen Moment hingearbeitet hat. Jetzt endlich kann er den Grundstein in Empfang nehmen. Er platziert ihn auf einer Schicht Mörtel und legt 100 goldene Münzen darauf.

Seinem Vorbild folgend, steigen auch die anderen hinunter und legen Gold und Silber auf den Stein. Denn der Glaube allein wird diese Kirche nicht bauen können.

Wo immer im mittelalterlichen Europa Kathedralen dem Himmel entgegenwachsen, fordern sie immense Kraftanstrengungen ein. In Steinbrüchen schuften hunderte Arbeiter mit Spitzhacke und Hammer, um Blöcke aus dem Felsen zu brechen. Die Steinquader werden auf Flöße verladen oder von Ochsen zu den Bauplätzen gekarrt. Dort ziehen und kurbeln Knechte die Steine an Seilwinden hinauf. Der Baustil ist erhaben und lichtdurchflutet, wuchtig und filigran zugleich. Später wird man ihm den Namen „Gotik“ geben.

Während andernorts Kirchenfürsten und Herrscher ihre Geldtöpfe ausschütten, tragen in Ulm alleine die Bürgerinnen und Bürger die Kosten. Und nicht nur das. Sie sind sogar stolz darauf.

Mit solcher Kühnheit kann nur eine Stadt agieren, die zu den mächtigsten im Heiligen Römischen Reich zählt. Ein hochwertiger Stoff aus Leinen und Baumwolle, der hier gefertigt wird, ist als „Ulmer Barchent“ bis in ferne Länder gefragt. Er hat die Stadt extrem wohlhabend gemacht. Obendrein ist sie als „Reichsstadt“ politisch weitestgehend unabhängig. Rechte, die früher der König innehatte, hat ihm die Bürgerschaft nach und nach abgekauft. Ihre neue Eigenständigkeit und das damit verbundene Selbstbewusstsein stecken in jedem Stein der neuen Kirche. Sie soll nicht nur Gott preisen, sondern auch die eigene Macht demonstrieren.

Zeichnung von Streben und Fenstern des Münsterturms

Doch muss es gleich der höchste Turm aller Zeiten sein? Warum nicht! Die Idee kristallisiert sich offenbar einige Jahre nach Baubeginn heraus. Noch sind es nur feine Tintenstriche auf Pergament, aber sie skizzieren einen Giganten, der alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen soll.

Der menschliche Eifer übersteigt jedoch das Wissen um die Stabilität. Das wird sich Generationen später auf bittere Weise zeigen.

Über viele Jahrzehnte hinweg bestimmt die Baustelle im Herzen Ulms den Puls der Stadt. Unter Leitung der Münsterbauhütte wird gehämmert und geschuftet, gesägt und geschwitzt. Die Ulmerinnen und Ulmer trennen sich dafür nicht nur von Geld, sondern auch von Gegenständen aller Art. Ob es sich um eine Rüstung, Dachziegel oder Holzspäne handelt – die Menschen geben es für eine Idee, die größer ist als sie selbst.

Als Lohn für den Wagemut wächst der Turm auf 70 Meter an. Während weitergebaut wird, feiert man in der Kirche bereits Gottesdienste. Weiches Sonnenlicht fällt durch die bunten Glasfenster hinein. Es verteilt sich über die geometrischen Formen, die überall im Gebäude wirken und auf eine höhere, göttliche Ordnung verweisen. Doch ausgerechnet während einer Predigt, an einem Sonntag im Jahr 1492, bricht ein verhängnisvolles Ereignis über die Gläubigen herein.

Zwei Steine brechen aus dem Turmgewölbe und stürzen krachend in die Tiefe. Panisch rennen die Menschen hinaus, fürchten, dass alles über ihnen zusammenbricht. Zum Glück passiert das nicht und niemand wird verletzt. Trotzdem wird der Schock zum Wendepunkt.

Auf beängstigende Weise zeigt sich, wie baufällig das Münster ist. Der Turm droht einzustürzen, die Kirche unter der Last des Gewölbes auseinanderzubrechen. Zusammen mit der Materie bröckelt die Euphorie. Die Gotik liegt nicht mehr im Trend, und die wirtschaftliche Stärke Ulms schwindet.

Zeichnung des Münsters mit gedrungenem Westturm

Das Münster wird zwar noch aufwendig stabilisiert, aber nicht weiter nach oben gebaut. Am 29. Januar 1543 besiegelt der Rat der Stadt mit folgenden Worten das Ende des Turmbaus: „Mit dem Bau am Münster soll zur Verhütung costens und Ainas Ehresamen Rats schimpf und span stille gestanden werden.“ Der Turm ist nicht mal halb so hoch wie einst geplant.

Jahrzehnt um Jahrzehnt zieht am Münster vorüber, überdeckt seine Dächer mit Moos, lässt auf den Mauerabsätzen sogar Bäumchen sprießen. Das Dachgebälk verfault, die Gesimse und Rosetten bröckeln. Bei starken Stürmen und Donnerschlägen erzittert das Gebäude. Spatzen nisten in den heiligen Hallen und machen mit ihrem Gezwitscher den Predigten lautstark Konkurrenz.

Das Münster ist das Wahrzeichen der Stadt, aber an seinen schleichenden Verfall hat man sich gewöhnt.

Zeichnung, die die Türme von fünf Kirchen direkt nebeneinander präseniert: Stephansdom in Wien, Kölner Dom, Ulmer Münster, Straßburger Münster, Freiburger Münster.

Erst im 19. Jahrhundert drängen der Ulmer Bürgerschaft die gravierenden Schäden ins Bewusstsein. Ganz Deutschland begeistert sich jetzt wieder für das Mittelalter und seine Kirchen. Im Stil der Gotik werden sie restauriert und ausgebaut. In Ulm wird der Verein für Kunst und Altertum zur treibenden Kraft. Nach rund 300 Jahren Stillstand nimmt die Münsterbauhütte 1844 ihre Arbeit wieder auf.

Welche Kosten die Restaurierung verschlingen wird, ist jedoch nicht absehbar. Anfangs steuert die Kirchenstiftung die Geldmittel bei, doch nach einer Reform bricht diese Quelle weg. Vorerst können staatliche Zuschüsse diesen Rückschlag abfedern. Erneut droht das Projekt zu scheitern.

Währenddessen beschleunigt sich das Wettrennen um den höchsten Kirchturm. Nachdem das Straßburger Münster (142 Meter) für Jahrhunderte den Rekord gehalten hat, geht es jetzt alle zwei bis vier Jahre Schlag auf Schlag. Erst triumphiert St. Nikolai in Hamburg (147 Meter), dann die Kathedrale im französischen Rouen (151 Meter), dann der Kölner Dom (157 Meter). Ulm will noch ein paar Meter mehr - aus rein ästhetischen Gründen, wie man betont, als in Köln der Vorwurf laut wird, die Donaustadt wolle in einer Art „Nebenbuhlerschaft“ um jeden Preis den höchsten Kirchturm haben.

Jetzt sind die Bürgerinnen und Bürger Ulms gefragt. Über alle Glaubensrichtungen hinweg spenden sie für das evangelische Bauwerk, in dem sie ihr gemeinsames Erbe sehen. Nicht nur in Ulm, sondern auch um Ulm und um Ulm herum wächst der Enthusiasmus: Menschen und Vereine aus den verschiedensten Teilen Deutschlands zeigen sich großzügig.

Um den Turm höher zu bauen, so, wie es die mittelalterlichen Baumeister vorgesehen hatten, reicht das aber bei Weitem nicht. Deshalb wird eine Münsterbaulotterie ins Leben gerufen. Ein Los für 35 Kreuzer kann sich in einen Gewinn von mehreren tausend Gulden verwandeln. Das kommt bei der Bürgerschaft gut an. Meter für Meter wächst der Turm dem alten Traum entgegen.

Am Abend des 31. Mai 1890 versammeln sich die Ulmerinnen und Ulmer im Herzen ihrer Stadt. Der Turm des Münsters zieht ihre Blicke hinauf in den Himmel. Sie ahnen, welch bedingungsloser Glaube und Ehrgeiz ihre Vorfahren bewegt haben muss. Zum Klang von Posaunen setzt sich der Schlussstein in Bewegung. Dann, endlich, ist das Ulmer Münster vollendet.

Die Geschichte steht freilich nicht still. In naher Zukunft soll die Sagrada Familia in Barcelona (172 Meter) fertig werden, einige Jahre später als zunächst angenommen. Beim Ulmer Münster vergingen stattliche 513 Jahre bis zur Vollendung. Es ist Zeugnis und Symbol dafür, dass man über sich hinauswachsen kann - auch wenn's mal etwas länger dauert.

Kirchenbänke im Ulmer Münster, eingerahmt von hohen Säulen und einer großen, gewölbten Decke

Text: Stadt Ulm, Marlene Müller | Fotos und Archivmaterialien: Stadt Ulm, Haus der Stadtgeschichte sowie Abteilung Vermessung | Sprecherin: Johanna Maria Zehendner | Klangaufnahmen: Andreas Usenbenz, Studio Sechzehn | Musik: vokalensemble ulmer münster, Karlsruher Barockrochester, unter Leitung von Münsterkantor Friedemann Johannes Wieland.

Höhe: 161,53 Meter

Jahre von der Grunsteinlegung bis zur Vollendung: 513

Zugehörigkeit: Das Ulmer Münster ist eine evangelische Kirche. Als mit dem Bau begonnen wurde, gab es noch keine Unterscheidung zwischen katholisch und evangelisch. Doch im Jahr 1530 entschied sich die Ulmer Bürgerschaft für die Einführung der Reformation. Seitdem ist das Münster eine evangelische Kirche.

Baubeginn: 30. Juni 1377

Bauende: 31. Mai 1890

Bauunterhalt: Rund 2,5 Millionen Euro jedes Jahr. Die Steine und anderen Elemente am Münster müssen fortlaufend restauriert werden. Die Ulmer Münsterbauhütte übernimmt diese besondere Aufgabe.

Stufen: 768

Besitz: Das Münster ist im Besitz der Evangelischen Kirche.