Die Legende vom Ulmer Spatz
Ein schlauer Vogel als Wahrzeichen

© Frank Genet
Es war einmal eine stolze Bürgerschaft, die eine große Kirche baute. Diese Kirche in der Reichsstadt Ulm sollte die höchste werden, die man je gesehen hatte. Um das Dach zu stützen, benötigte der Baumeister lange Holzbalken. Also sandte er seine Gehilfen aus der Stadt.
Frohen Mutes zogen die Männer hinaus in die Wälder und fällten mächtige Bäume. Sie legten die Stämme auf einen Wagen und machten sich damit auf den Rückweg. Doch vor der Stadtmauer blieb das Fuhrwerk unerwartet stehen. Es passte nicht durch das Tor hindurch. Die Stämme waren länger als das Tor breit, und wenn man den Wagen auf die eine Seite passend hinschob, standen sie auf der anderen umso mehr über.
Die ganze Stadt geriet darüber in Aufruhr. Die Handwerker ließen ihre Arbeit ruhen, die Kinder sprangen neugierig herbei, die Marktfrauen hörten stirnrunzelnd zu, wie die edlen Bürgerinnen und Bürger diskutierten, was zu tun sei. In keinem der schlauen Bücher fand sich Rat. Sogar der Bürgermeister, der sonst auf alles eine Antwort wusste, war ratlos. Es schien nur einen Ausweg zu geben: Das Tor musste abgerissen werden!
Gerade als die Verwirrung am größten war, flog ein kleiner Spatz über die Menge hinweg. Im Schnabel trug er einen golden glänzenden Getreidehalm. Der Vogel flatterte an die Stadtmauer heran. Dort wollte er in einem Spalt zwischen den Mauersteinen sein Nest bauen. Die Menschen hielten die Luft an. Der schlaue Spatz drehte den Halm und schob ihn der Länge nach in den Mauerspalt.
Da drehten auch die Ulmer ihre Holzbalken, sodass sie nun längs auf dem Wagen lagen. Und siehe da: Elle um Elle, Stück für Stück rollte der Wagen jetzt durch das Tor hindurch.
Die Menge geriert ist Jubeln. Die Ulmerinnen und Ulmer applaudierten dem Spatzen und schlossen ihn tief in ihre Herzen. Zum Dank errichteten ihm spätere Generationen ein Denkmal auf dem Dach des Ulmer Münsters: Dort sitzt die Figur eines Spatzen mit Halm im Schnabel. Und so wurde der Spatz zum beliebten Wahrzeichen der Stadt Ulm.
Das war die Legende vom Ulmer Spatz. Das erste Mal lässt sich die Volkssage in einem Reisebericht von Carl Julius Weber aus dem Jahr 1826 nachweisen. Der Heimatforscher Otto Häcker und der Historiker Rudolf Biermann haben die Ursprünge der Sage recherchiert und dabei auch nachgewiesen, wie sie im Lauf der Jahre immer wieder leicht verändert wurde. Wir haben die Geschichte mit ihren zentralen Motiven frei nacherzählt.
Text: Stadt Ulm, Marlene Müller | Fotos und Archivmaterialien: Stadt Ulm, Haus der Stadtgeschichte, Öffentlichkeitsarbeit und Repräsentation; Ulm/ Neu-Ulm Touristik | Sprecherin: Johanna Maria Zehendner | Klangaufnahmen: Andreas Usenbenz, Studio Sechzeh.