Navigation und Service

Springe direkt zu:

Mediziner sein in Zeiten einer Pandemie

Prof. Dr. Hendrik Bracht im weißen Artzkittel

© Universitätsklinikum Ulm

In unserer Serie "Erzähl doch mal..." berichten Ulmerinnen und Ulmer von ihren Erlebnissen und Erfahrungen während der Corona-Pandemie. Für die sechste Folge sprachen wir mit Prof. Dr. Hendrik Bracht, Geschäftsführender Oberarzt und Facharzt für Anästhesiologie mit den Zusatzbezeichnungen spezielle Intensivmedizin und Notfallmedizin. Er arbeitet seit über 20 Jahren auf der Intensivstation, seit vergangenem Sommer leitet er die Zentrale Interdisziplinäre Notaufnahme (ZINA) des Universitätsklinikums Ulm am Oberen Eselsberg. Wir wollten von ihm wissen, wie er und sein Team an "vorderster Front" die Pandemie im Arbeitsalltag erlebt.

Das Interview wurde im März 2021 geführt.

Vor knapp über einem Jahr brach weltweit die Pandemie aus. Woran erinnern Sie sich?
"Im Februar findet immer einer der größten Ärztekongresse in Bremen statt. Ich bin im vergangenen Jahr dorthin gereist. Dass jemand eine Maske im öffentlichen Leben getragen hat, war eher eine Seltenheit. Während des Kongresses war Corona noch gar kein Thema. Wir hatten überhaupt keine Ahnung, was da auf uns zukommt, denn genau zwei Wochen später hat Corona einfach alles beherrscht. Das hätte ich nicht für möglich gehalten - auch mussten wir die Intensivstation komplett umstrukturieren."

Können Sie sich noch an Ihren ersten Covid-Patienten*in erinnern und wenn ja, wie war das?
"Ja, ich erinnere mich genau daran. Auf den ersten Blick sah er aus, wie "jeder normale Intensivpatient", der eine Lungenerkrankung hat. Schnell haben wir gemerkt, dass spezielle Lagerungs- oder Beatmungstherapien nicht angeschlagen haben. Uns wurde sofort bewusst, dass wir vor etwas komplett Neuem standen, was wir erstmal begreifen mussten. Zu Beginn der Pandemie tappten wir völlig im Dunkeln, denn wir wussten nicht, wie wir uns mit Corona infizieren können. Das war eine große Herausforderung und machte natürlich Angst. Wir haben die Lüftung der Räume angepasst, jede Menge Desinfektionsmittel verbraucht und definiert, welche FFP-Masken wir wann tragen."

Sie sind Arzt und es gewohnt, mit schweren, lebensbedrohlichen Situationen auf der Intensivstation umzugehen. Was war bei Corona anders?
"Gerade zu Beginn, als man noch wenig über das Virus wusste, war alles sehr schwierig. Natürlich hatten wir unseren Anspruch, den Arbeitsalltag so gut und gewissenhaft wie eben möglich zu meistern. Aber letztendlich sind wir auch "nur" Menschen, die besonders zu Beginn Angst hatten. Vor Corona hatten Intensivmediziner*innen und Pfleger*innen mit vielen Krankheiten auf der Station zu tun, aber sich anstecken und daran sterben - diese Gefahr war neu."

Wie haben Sie die erste Welle empfunden?
"Wir mussten so schnell es ging das Virus kennenlernen. Seit einem Jahr haben wir die gesamte Intensivmedizin komplett verändert. Nicht jede Covid-Patientin oder jeder Covid-Patient ist wie der oder die andere. Mittlerweile haben wir Erfahrungswerte. Wir waren ja zu Beginn der Pandemie noch der Überzeugung, wir können jeden retten.
Auch die Schäden, die das Virus in der Lunge und den weiteren Organen anrichtet, belastet die Intensivmediziner*innen, denn bei allen anderen Erkrankungen liegt die Mortalitätsrate bei 25 Prozent, bei kritisch kranken COVID-19-Patient*innen hingegen liegt dieser Wert international zwischen 40-50%, im UKU im Bereich von 30-35% - das war niemand bisher gewohnt.
Bei der ersten Welle hatten wir ein weiteres Problem, dass viele Erkrankte die Notaufnahme nicht aufgesucht hatten, da sie Angst hatten, sich hier mit Covid-19 anzustecken. Dadurch sind viele zuhause an Schlaganfällen, Herzversagen etc. verstorben. Wären sie hier gewesen, so hätten wir sie in den meisten Fällen retten können. Während der zweiten Welle hat sich die Situation komplett geändert: Jetzt haben wir auch wieder diese Patient*innen und zusätzlich natürlich Covid-19-Erkrankte.
Selbstverständlich versuchen wir immer, jeden zu retten und geben dabei auch nicht auf. Wir empfinden eine große Hilflosigkeit, wenn wir den Patient*innen nicht mehr helfen können. Intensivmediziner müssen generell schon eine hohe Belastungs- und Frusttoleranz haben, aber diese Krankheit hat dieses Level noch mal erheblich hochgeschraubt. Die Pandemie verlangte von uns Ärzte*innen und auch von den Pflegern*innen einiges ab."

Welche Herausforderungen hatten die Pfleger*innen im vergangenen Jahr? Was genau wurde von ihnen abverlangt?
"Wenn wir feststellen, dass eine Patientin oder ein Patient eine Krankheit nicht bewältigen kann und sterben wird, dann kontaktieren wir sofort die Angehörigen und sprechen mit ihnen von Angesicht zu Angesicht. Sie kommen in die Klinik und begleiten die Patientin oder den Patienten, bis er oder sie verstirbt. Dieser Prozess ist für Patient*innen und Angehörige enorm wichtig und wir setzen alles daran, dass das so stattfinden kann.
Bei den Covid-Patient*innen war das gerade zu Beginn anders: Wir konnten nicht face-to-face mit den Angehörigen sprechen, sie konnten sich nicht von ihren Angehörigen verabschieden und sie auf dem letzten Weg begleiten. Somit haben die Pflegekräfte diese Rolle der Angehörigen übernommen - darauf war niemand vorbereitet. Sie waren alleine mit dem Sterbenden und es hat ein Abschied zweier Menschen stattgefunden, die sich völlig fremd waren. Das ist sehr schwer und emotional für die Pflegekräfte. Mittlerweile können wir die Angehörigen unter Auflagen zumindest in diesen Situationen wieder zu den Patient*innen lassen. "

Wie gehen die Pfleger*innen mit diesen Situationen um?
"Leider haben sich die Pfleger*innen persönlich und finanziell in der Öffentlichkeit nicht ausreichend wertgeschätzt gefühlt und wie groß dieser Schaden später sein wird, können wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht greifen. Wir werden auch nach der Pandemie noch viele Langzeitwirkungen zu bewältigen haben, denn wir können alle noch nicht abschätzen, was diese Zeit gerade z. B. mit den Pflegekräften macht. Jeder geht anders mit solchen Situationen um, und ich sehe es kritisch, ob besonders die Jüngeren diesen Job auch nach dieser Pandemie weitermachen werden. Und dann haben wir einen schlimmeren Pflegenotstand als noch vor der Pandemie."

Wie motivieren Sie Ihr Team und Ihre Mitarbeiter*innen in dieser Zeit?
"Ich brauche gar nicht dahinter zu sein, denn alle, die hier arbeiten, haben über 150% geleistet. Selbstverständlich spielt Lob in einer solchen Zeit eine größere Rolle und wird auch öfters ausgesprochen. Die Motivation in unserem Tätigkeitsbereich ist schon immer sehr hoch, oftmals ist der Beruf eine Berufung. Was uns am meisten zugutekam: Alle waren sehr flexibel und kompromissbereit, denn wir konnten bedarfsgerecht die Mitarbeiter*innen auf anderen Stationen einsetzen. Ich muss an dieser Stelle ein großes Lob aussprechen: Was von den Pfleger*innen und Assistenzärzt*innen geleistet wurde, war und ist enorm."

Gibt es auch positive Aspekte, die Sie durch die Pandemie gewinnen konnten?
"Es ist phänomenal, wie viele neue Erkenntnisse wir in so kurzer Zeit gewonnen haben. Diese konnten wir schnell in die Praxis umsetzen. Dabei war wichtig, dass die Erkenntnisse direkt bei den Patient*innen so schnell wie möglich angewendet werden konnten. Wir Ärzt*innen sind untereinander, insbesondere deutschlandweit, sehr gut miteinander vernetzt. Wir haben einen eigenen Messenger-Dienst, ähnlich wie WhatsApp, in dem ca. 250 Ärzt*innen in einer Gruppe sich intensiv über die medizinischen Fragen und Erfahrungswerte austauschen. Dabei gab es viele "Leuchtturmeffekte", d. h. wenn die einen Kollegen*innen mit einer Strategie erfolgreich waren, sind die anderen direkt mitgezogen. Zeit hat für uns immer eine große Rolle gespielt und dank der digitalen Formate konnten wir kurze Dienstwege beschreiten. Das war eine sehr positive Entwicklung und diese bleibt uns auch nach der Pandemie erhalten."

Was war Ihr einprägsamstes Erlebnis während der Pandemie, was Sie so schnell nicht mehr vergessen werden?
Im vergangenen Sommer kam ein Patient in den Schockraum der Notaufnahme, der bereits auf einer Baustelle wiederbelebt werden musste. Wir wussten bei seiner Einlieferung nicht, ob er wohlmöglich positiv mit dem Coronavirus infiziert war oder eben nicht. Wir müssen jede Patientin und jeden Patienten immer sofort ab der ersten Sekunde so behandeln, als sei sie oder er positiv, weil wir es zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Da ist mir sehr deutlich klargeworden - und das war für mich ein einschneidendes Erlebnis - was für eine Belastung wir tragen, bis wir das Virus komplett losgeworden sind. Bis dahin wird sich das Gesundheitssystem auf solche Situationen einstellen müssen, die eine erhebliche Zusatzbelastung erfordert. Denn diese Vorsichtsmaßnahmen verzögern erheblich unsere normalen Prozesse und Abläufe.

Sie kommen abends von einem anstrengenden Tag nach Hause. Tagsüber ist/ sind bei Ihnen auf der Station ein oder mehrere Covid-Patient gestorben, für die Sie und Ihr Team bis zur letzten Sekunde gekämpft haben. Sie schalten dann abends die Nachrichten ein und sehen die Demonstranten und die Verschwörungstheoretiker. Hand aufs Herz: Was denken Sie in solchen Momenten?
"Durch die Demos wurde die Arbeit der Pfleger*innen und auch unsere verhöhnt, da diese ja entweder die Existenz des Virus verleugnen oder es mit einem grippalen Effekt gleichtun. Das kommt bei uns hier sehr negativ an. Die Demos waren stellenweise auch hochgradig gefährlich. Die Verschwörungstheoretiker*innen lasse ich nicht an mich heran, denn das ist für mich nicht erträglich. Ich kann da auch nicht ruhig bleiben - das wühlt mich richtig auf. Wir hatten einen Intensivpfleger bei uns auf der Intensivstation, der selbst an Covid-19 erkrankt ist und auf der Intensivstation um sein Leben gekämpft hat. Er war Mitte 50 und hat den Kampf verloren, weil er anderen helfen wollte. Und andere draußen behaupten, das Virus existiert nicht - das ist Hohn!

Hatten Sie mal eine/n Verschwörungstheoretiker*in in Behandlung?
Glücklicherweise nicht, aber ein Kollege hatte einen solchen Patienten in Behandlung, der sogar die Intensivstation überlebt hat und auf eine normale Station verlegt wurde. Er hat ernsthaft noch im Nachgang an seinen alten Ansichten festgehalten, was ich besonders nach einer überstandenen Intensiverkrankung absolut nicht nachvollziehen kann.

Im November kam dann die Meldung: Es gibt einen Impfstoff. Wie haben Sie reagiert, was waren Ihre Gedanken?
Ich war ehrlich gesagt zunächst verhalten wegen der Wirksamkeit. Wir wissen natürlich, dass Impfstoffe helfen und auch, dass Viren mutieren. Ich habe großen Respekt vor der Wissenschaft, die sehr leistungsfähig ist und es innerhalb eines Dreivierteljahres geschafft hat, einen Impfstoff zu entwickeln. Ich bin mittlerweile auch von der Wirksamkeit überzeugt. Nur der Rollout des Impfstoffes hätte besser laufen können.

Wie schalten Sie von und nach einem arbeitsintensiven Tag abends ab?
Ich habe irgendwann nicht mehr so intensiv die Nachrichten geschaut, denn ich bin in meinem Job nonstop mit dem Virus konfrontiert. Meine zwei Kinder helfen mir automatisch von meiner täglichen beruflichen Herausforderung abzuschalten. Aber ich schaffe das nicht immer. Wenn z. B. wieder ein Treffen mit Frau Merkel und ihren Ministerpräsidenten*innen ansteht, dann bin ich natürlich auch gespannt, was beschlossen wird und welche Veränderungen auf uns zukommen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich wünsche mir genau drei Dinge:

  • Ich wünsche mir sehr, dass sich die Pfleger*innen ihre Flexibilität und Motivation bewahren! Ich bin überzeugt davon, dass sie das schaffen, aber wir sollten das keineswegs als Selbstverständlichkeit hinnehmen
  • Ich wünsche mir von der Politik einen stärkeren Fokus auf die Bildung, denn die dürfen wir auf keinen Fall vernachlässigen.
  • Jetzt ist es ganz wichtig, dass die Bevölkerung für eine Impfung sensibilisiert wird, denn die Impfung ist ganz wesentlich. So haben wir in der Vergangenheit auch Viruserkrankungen wie z.B. Pocken und Polio hinbekommen.

Vielen Dank für das gute Gespräch mit Ihnen, Herr Prof. Dr. Bracht!