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Interview mit Prof. Dr. Hendrik Bracht

Prof. Dr. med. Hendrik Bracht

© Universitätsklinikum Ulm

In unserer Serie Erzähl doch mal... berichten Ulmerinnen und Ulmer von ihren Erlebnissen während der Corona-Pandemie. Für die siebte Folge haben wir Professor Dr. Hendrik Bracht interviewt. Er sprach bereits Anfang 2021 mit uns. Jetzt wollten wir von ihm wissen, wie es ihm und seinen Mitarbeiter*innen während der 4. Welle ergeht und was sich seit unserem letzten Gespräch verändert hat.

Wie ist die aktuelle Situation bei Ihnen?

„Der Sommer war sehr ruhig und die Bevölkerung hat sich in Sicherheit gewogen. Leider bekommen wir jetzt die Quittung. Ende September begann das exponentielle Wachstum, es kamen täglich neue Covid-Fälle rein. Wir sind aktuell an unserer Belastungsgrenze angekommen. Zwar wird ein großer Teil der Patient*innen nicht auf der Intensivstation behandelt, aber auf der "normalen" Station ist die Auslastung hoch.
Wir dürfen nicht vergessen, dass wir nicht nur Covid-Patient*innen haben, die wir räumlich isolieren müssen, sondern auch Patient*innen mit anderen Krankheiten wie z. B. Krebs, chronischen Erkrankungen oder auch Opfer von Unfällen. Diese können bei einer hohen Auslastung nicht so behandelt werden, wie sie es gewohnt sind und leider müssen die Kapazitäten auf deren Kosten entsprechend angepasst werden. Sie leben sowieso schon mit einer großen Angst vor Corona, aber auch vor einer Behandlung, die nicht ausreichend ist.
Wir beobachten weiterhin, dass die Vorsorge- und Nachuntersuchungen nicht mehr so in Anspruch genommen werden als zu Zeiten, in denen Corona keine dominante Rolle gespielt hat. Landet ein Covid-Patient auf Intensiv und muss beatmet werden, so belegt ein 50-60-Jähriger bis zu 60 Tage das Lungengerät. Patient*innen mit anderen Krankheiten sind dadurch stark eingeschränkt, denn wir haben dann einen Mangel an personellen Ressourcen.“

Wo genau ist beim Corona-Verlauf der Unterschied zwischen einem Geimpften und einem Ungeimpften? Welche Beobachtungen machen Sie?

„Wir müssen selbstverständlich alle gleichwertig, nach dem gleichen Standard und Vorgaben, behandeln, unabhängig davon, ob jemand geimpft oder ungeimpft ist. Die Gefahr und das Risiko, einen schweren Verlauf zu bekommen, ist bei einer/einem ungeimpften Patient*in deutlich größer als bei einer/einem Geimpften. Die ungeimpften Patient*innen kommen schon in einem deutlich schlechteren Zustand zu uns und haben überwiegend einen schweren Verlauf.“

Wie gehen Sie mit der Einstellung eines ungeimpften Patient*in um?

„Wir haben öfter versucht, herauszufinden, welche Gründe es gibt, sich nicht impfen zu lassen. Es gibt leider auch Patient*innen, die Vorerkrankungen haben, und sich zudem nicht impfen lassen. Wir als Mediziner*innen und Wissenschaftler*innen können das absolut nicht nachvollziehen. Es gibt nur wenige medizinische Gründe, die gegen eine Impfung sprechen und diese treffen nur auf einen geringen Anteil der Bevölkerung zu. Alles andere ist wissenschaftlich nicht vertretbar. Nach unseren Erfahrungen lassen sich nur wenige Menschen vom Gegenteil überzeugen. Ich weiß nicht, ob die Maßnahmen 2G und 2 G plus etwas bringen, denn ich denke, dass wir um eine Impfpflicht nicht drum rumkommen. Es wird auch so getan, als hätte es eine Impfpflicht noch nie gegeben, dabei ist das vor allem in einigen Berufsgruppen längst etabliert, gerade bei uns im Gesundheitswesen.
Wir werden die 4. Welle ohne Kontaktbeschränkungen nicht brechen können. Ich befürchte, wir bekommen einen bescheidenen Winter und sind an Weihnachten in einer ähnlichen Situation wie im vergangenen Jahr. Die Geimpften werden darüber sauer und frustriert sein, denn schließlich haben sie sich unter anderem impfen lassen, um zu ihrem "alten Leben" zurückzukehren. Und das wird die Gesellschaft weiterhin spalten.“

Konnten Sie beobachten, dass viele ungeimpfte Patient*innen nach einem schweren Verlauf eine andere Einstellung bekommen haben?

„Leider denken viele, dass sie trotz eines schweren Verlaufs noch einmal Glück gehabt haben. Wir haben aber auch Patient*innen mit einem schweren Verlauf, die danach ganz anders über Corona gedacht haben. Beispielsweise hatten wir einen über 70-Jährigen mit Vorerkrankungen, der trotzdem ungeimpft war und der auf der Station glücklicherweise zum Nachdenken kam und seine Einstellung geändert hat. Man darf auch nicht unterschätzen, dass viele jungen Menschen, die an Covid erkranken, oftmals mit Long-Covid zu kämpfen haben.

In unserem letzten Gespräch sagten Sie, dass die Pandemie große Auswirkungen auf unsere Pfleger*innen haben und dass es eine große Fluktuation geben wird. Wie hat sich die Situation der Pfleger*innen bei Ihnen seitdem entwickelt?

„Deutschlandweit haben wir im Laufe der Pandemie sehr, sehr viele Intensivpfleger*innen verloren. Es ist nachvollziehbar, denn diese sind sehr verzweifelt. Sie müssen Menschen behandeln, deren schwerwiegender Verlauf in den meisten Fällen vermeidbar gewesen wäre. Dadurch kommen sie natürlich an ihre Belastungsgrenzen und müssen sich ständig der Gefahr aussetzen, sich selbst zu infizieren.
Das Team will und kann langfristig so nicht weiterarbeiten. Sie möchten allen gerecht werden und ihren Beruf nach den vorherigen Standards ausüben, aber das funktioniert so aktuell nicht. Wir können nicht unendlich auf die Bereitschaft der Mitarbeiter*innen hoffen, an ihre Kapazitätsgrenzen zu gehen. Wir müssen auch verstehen, wenn diese nach zwei Jahren Pandemie so nicht mehr arbeiten möchten. Viele haben bereits resigniert, das ist mit Zahlen belegbar. Ich finde, sie brauchen dringend mehr Wertschätzung - auch finanziell. Die Pfleger*innen möchten bessere Arbeitsbedingungen. Denn bisher wurde kein Weg gefunden, wie wir die Pfleger*innen langfristig halten und ihren Beruf wieder attraktiver gestalten können. Andere Berufe mit wesentlich weniger Verantwortung bekommen einen höheren Lohn. Wenn das so weitergeht und wir mal das 80. Lebensjahr erreichen, dann können wir froh sein, wenn wir nicht auf Pfleger*innen angewiesen sind.“

Was ist aus Ihrer Sicht der richtige Weg aus der Pandemie?
„Wir brauchen eine deutlich höhere Impfquote. Das ist aus meiner Sicht der einzige Weg aus der Pandemie. Wenn wir uns heute mal Länder wie Brasilien, Spanien oder Portugal anschauen, sehen wir, dass es denen aktuell sehr gut geht, obwohl diese Länder harte Zeiten hinter sich haben. In Brasilien beträgt die Impfrate über 90 Prozent und dort gibt es eine andere Logistik als hierzulande. Es steckt auch bestimmt ein psychologischer Zusammenhang dahinter, denn diese Länder hatten viele Todesopfer. Daher ist wahrscheinlich die Impfbereitschaft hoch. Es hilft wahrscheinlich nur, wenn sich im persönlichen Umfeld der einzelnen Personen etwas ändert oder sie selbst einen schweren Verlauf haben, und dadurch eine größere Bereitschaft zum Impfen zeigen.“

Inwiefern hat die Impfung ihre Arbeit erleichtert?

„Die Angst, sich selbst zu infizieren, ist deutlich geringer. Schwere Verläufe sind so gut wie ausgeschlossen. Gerade für die Pfleger*innen, die die Ungeimpften behandeln, ist die Arbeit dadurch erträglicher. Nach wie vor sind wir auf die Bereitschaft des Personals angewiesen, in anderen Bereichen auszuhelfen. Personal zu dafür zu gewinnen, ist eine große Aufgabe und nicht einfach umzusetzen. Pfleger*innen aus anderen Bereichen müssen sehr flexibel sein, um auch anderweitig stationär eingeteilt zu werden. Wenn Sie beispielsweise jemanden, der mit Covid kaum Berührung hat, auf Intensiv einsetzen, ist das für die Mitarbeiter*innen auch emotional belastend.
Die Impfung ist sehr wichtig. Gerade bei Menschen mit einem schwachen Immunsystem, die insbesondere Vorerkrankungen wie Krebs haben, ist die Immunisierung dringend notwendig. Denn ein Mensch mit Erkrankungen hat einfach nicht die Immunkompetenz wie ein Gesunder. Auch lässt der Impfschutz nach einiger Zeit nach, daher ist das Boostern sehr wichtig. Besonders die Risikogruppen z.B. ältere Menschen haben, wenn sie die Impfung zu Beginn des Jahres erhalten haben, mittlerweile kaum noch einen Schutz und ohne Booster sind sie wieder sehr gefährdet. Das Boostern hätte wir bereits im Sommer angehen müssen, das wurde leider verschlafen. Und es ist sehr schwierig, das nun während der vierten Welle komplett nachzuholen.“

Wie lange geht es noch gut?
„In den nächsten 1- 2 Wochen wird sich herausstellen, in welchem Ausmaß wir an unsere Grenzen stoßen werden. Wenn es so weitergeht, dann können wir bald den Ansturm der Patient*innen nicht mehr bewältigen. Auch unsere Rettungsdienste stehen vor einer großen Herausforderung: Wenn wir hier einen Corona-Patienten mit milden Symptomen behandeln, muss dieser irgendwann nach Hause. Wir können ihn nicht in den ÖPNV schicken, sondern müssen ihn nach Hause fahren. Das ist zeitintensiver als bei anderen Patient*innen, denn der Krankentransporter muss danach komplett desinfiziert werden.“

Was wünschen Sie sich?

„Ich wünsche vor allem dem Personal, dass es weiterhin motiviert bleibt und gemeinsam mit uns durch diese schwierige Zeit geht. Es ist so wichtig, dass sich immer mehr Menschen schnellstmöglich impfen lassen, damit wir nicht mehr in eine solche Situation geraten. Die 5. Welle soll nur noch ein kleines Grundrauschen werden, so wie bei der Grippe. 2017/18 hatten wir die schlimmste Grippewelle, Covid hat das längst übertrumpft. Es ist sehr wichtig, dass die Schulen und Kindergärten weiterhin geöffnet bleiben.“

Was sagen Sie zu den Vorbehalten, die die meisten Skeptiker*innen haben?

„Es ist für keine Impfung belegt, dass es Langzeitfolgen geben wird. Die Angst vor Langzeitfolgen ist daher unbegründet. Auch die Behauptung, dass die Impfung wirkungslos ist, da es Impfdurchbrüche gibt, stimmt nicht. Geimpfte haben einen deutlich milderen Verlauf als Ungeimpfte. Auch übertragen sie nicht so schnell das Virus an andere. Das Risiko, einen schweren Verlauf zu haben, ist bei Ungeimpften 8 bis 10 Mal höher. Es gibt keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, die dafürsprächen, sich nicht impfen zu lassen. Das Gesundheitssystem wird bei der hohen Hospitalisierung stark belastet. Oft hören wir die Kritik, dass die Freiheit genommen wird, wenn ein Ungeimpfter sich impfen lassen soll. Aber die Freiheit eines anderen wird auch genommen, wenn sich die Ungeimpften nicht impfen lassen, denn dadurch kann ich andere Kranke (z. B. mit Krebs etc.) nicht richtig behandeln wie ich es eigentlich sollte. Die Freiheit des einen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt.