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Hayat M.

Hayat M. (Name von der Redaktion geändert) ist 23 Jahre alt und lebt seit Juli 2014 in Deutschland. Im Interview erzählt sie uns von der Situation in Eritrea und ihrem neuen Leben in Ulm.

Wie war die Lage für dich als Jugendliche?
Ich bin schon sehr jung geflüchtet, mit 14 Jahren. Die Situation in Eritrea ist sehr schwierig: Es gibt zum Beispiel keine Meinungs- und Pressefreiheit. Wenn man seine Meinung äußert, dann muss man sofort ins Gefängnis. Die Menschen dort sind nicht frei. Ich habe meinen Papa nie kennengelernt, denn er ist im Krieg gestorben, um das Land zu befreien. Es fliegen sehr viele Eritreer aus ihrer Heimat. Mir war als 14-Jährige diese Lage nicht so bewusst, wie sie mir das heute ist. Ich bin gemeinsam mit der Schwester einer Freundin und einer Cousine geflohen, weil ich als Einzige von uns den Fluchtweg kannte. Seitdem war ich nie wieder in meiner Heimat.

Wo ist deine Familie? Ist sie auch in Deutschland?
Ich habe noch zwei Geschwister, ein Bruder lebt mittlerweile mit seiner eigenen Familie in München. Aber meine Mutter war zum Zeitpunkt meiner Flucht hochschwanger mit meinem jüngsten Bruder. Sie war bereits seit 14 Jahren Witwe und ich wusste, dass sie mich nicht mehr zurückholen kann.

Wie meinst du das, dass sie dich „nicht zurückholen“ konnte?

Ich habe mich wie jeden Tag in meiner Schuluniform von meiner Mutter verabschiedet, um zur Schule zu gehen. Ich weiß noch, wie sie unter einem Baum saß und mir zurief „bis heute Abend“. Aber ich bin nicht zur Schule gegangen, sondern habe die Flucht angetreten. Wenn man minderjährig ist, werden die Eltern beim Passieren der Grenze kontaktiert und haben so die Möglichkeit, ihre Kinder wieder zurückzuholen. Da meine Mutter aber hochschwanger war, war mir klar, dass sie das gar nicht tun kann. Somit sah ich meine Chance, meine Heimat zu verlassen.

Wie ging es dann weiter?
Wir sind durch die Wüste gelaufen und mussten aufpassen, dass wir nicht gesehen wurden. Es war sehr heiß und wir mussten einen Berg überqueren. Als wir an der Grenze ankamen, wurden wir versorgt. Als wir in einer Polizeistation ankamen, sah ich auf die Uhr und dachte daran, dass nun die Schule aus ist und meine Mutter auf mich wartet. Wir bekamen etwas zum Trinken und ein Lastwagen hat uns zum Roten Kreuz gebracht. Dann ging es nach Äthiopien in ein Flüchtlingsheim, später dann ins Camp für U-18. Hier wurden zwei Monate lang jungen Leute „gesammelt“, bis sie dann in eine Stadt in Äthiopien gebracht worden sind. Dann begann das „Business“, denn man brauchte Geld, damit es weitergeht. Damit wir nicht entdeckt wurden, liefen wir nachts von Äthiopien in den Sudan, tagsüber haben wir geschlafen. Das ging mehrere Nächte hintereinander so. An verschiedenen Stationen, meist Grenzübergängen, mussten wir zahlen, damit wir weiterkonnten.

Woher hattest du das Geld?
Meine Mutter hat alles gezahlt. In Eritrea ist der Familienzusammenhalt sehr stark und die Familien legen dort zusammen und treiben so das Geld auf. Ich musste natürlich meine Mutter anrufen und darum bitten, dass sie das Geld zahlt. Die Summe der jeweiligen Personen hängt von deren Lebenssituation und Lebensqualität ab - bei mir waren es damals ca. 2.000 € - aber heute ist das wesentlich teurer. Ich hatte das Glück, dass meine Mutter für mich bezahlt hat. Es gab Menschen, für die wurde nicht gezahlt.

Hattest du kein schlechtes Gewissen deiner Mutter gegenüber?

Oh doch, ich hatte ein sehr schlechtes Gewissen! Meine Mutter hat nach zwei Tagen verstanden, dass ich weg bin. Ich hatte ihr das nie angekündigt, sie hätte mich auch sonst nicht aus dem Haus gelassen. Später haben Nachbarn mir berichtet, dass sie durchgedreht ist, als ich nicht nach Hause gekommen war. Als wir später telefoniert haben, hat sie immer geweint. Ich habe ihr keine Wahl gelassen, sie musste schließlich das tun, was ich ihr sagte und das Geld auftreiben. Sie hatte dafür circa drei Wochen Zeit.

Was passierte, nachdem du Äthiopien verlassen hattest?
Ich kam im Sudan an und wir liefen in Libyen durch die Wüste. Dort hatte ich mit anderen einen Unfall und wir sind ins Gefängnis gekommen. Ich war für drei Monate gemeinsam mit Menschen, die keine Papiere hatten, eingesperrt, diese waren auch auf der Flucht. Das war der Grund, warum ich festgenommen wurde. Nachdem ich drei Monate dort war, ging es nach Italien und schließlich nach Deutschland, direkt nach Ulm.

Wie ist das Gefängnis in Libyen?
Schrecklich! Es gab eine Toilette mitten im Zimmer, die überlief. Wir waren fast 50 Frauen in einer Zelle. Aber es war nicht gefährlich, wir haben uns untereinander verstanden, wir waren alle Geflüchtete und hielten zusammen.

Hattest du während deiner Flucht nie Angst?
Wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, dann wird mir schon bewusst, was ich auf mich genommen habe. Aber damals war mir das noch nicht so klar. Außerdem werden die Jugendlichen in Afrika sehr schnell erwachsen, denn sie müssen schon sehr früh Verantwortung übernehmen. Das ist anders als in Deutschland. Das heißt, ich war zwar noch sehr jung, aber schon wesentlich „älter“ als andere in meinem Alter. Während der Flucht wurde ich auch ständig von meiner Cousine getrennt. Wir trafen uns ab und zu wieder, aber dadurch, dass für sie zu einem späteren Zeitpunkt gezahlt wurde, ging für uns die Flucht nicht zeitgleich weiter.

Wie lange hat deine Flucht gedauert?
Ich habe mein Heimatland im November 2013 verlassen und kam im Juli 2014 in Deutschland an.

Wir war dein erster Eindruck in Deutschland?
Es war alles neu, ich kannte die Sprache und die Kultur nicht. Ich kam in Ulm in ein Kinderheim und habe mich dort in der Gruppe gut eingelebt, die Sprache gelernt und die Kultur kennengelernt. Es war schwer, die Sprache zu lernen, aber das musste ich. Im Heim wurde mir so vieles beigebracht und nach sechs Monaten konnte ich mich einigermaßen gut verständigen. Insgesamt war ich zwei Jahre im Heim, dann wurde ich vom Jugendamt betreut und zog in eine WG. Ich habe meinen Hauptschulabschuss gemacht und eine Friseurausbildung begonnen. Allerdings fiel mir diese sehr schwer und ich brach ab. Dann habe ich eine Ausbildung als Kinderpflegerin gemacht und diese vor Kurzem erfolgreich abgeschlossen.

Wie ging es mit deiner Familie weiter?

Mein Bruder ist zwei Monate nach mir geflüchtet - auch heimlich, ohne unserer Mutter davon zu erzählen. Er hat mittlerweile eine eigene Familie und lebt in München. Ich besuche ihn regelmäßig. Meine Mutter und mein jüngster Bruder leben noch in meiner Heimat - ich kenne ihn nicht persönlich. Sie ist natürlich sehr traurig darüber, dass zwei Kinder nicht mehr bei ihr sind. Ich war seit meiner Flucht nicht mehr dort und sie will immer wissen, wann wir uns wiedersehen. Aber ich habe jetzt einen Ausländer-Reisepass und plane im nächsten Jahr, meine Mutter im Nachbarland wiederzutreffen. Meine Mutter war total am Boden zerstört, als ich gegangen bin [sie hält inne und weint]. Sie war so traurig, denn ich war nicht nur ihre Tochter, sondern auch ihre enge Freundin. Sie hat mir gesagt, dass ich ihre damalige Schwäche [ihre fortgeschrittene Schwangerschaft] ausgenutzt habe. Nichtsdestotrotz denkt sie, meine Flucht war die richtige Entscheidung. Aber sie macht sich natürlich Sorgen, weil wir uns nicht sehen können. Die Internetverbindung ist in Eritrea nicht ausgebaut, wir können ab und zu telefonieren, wobei die Verbindung auch nicht immer zuverlässig ist.

Ist ein Besuch oder die Rückreise in deine Heimat für dich gefährlich?
Ich hätte die Gelegenheit gehabt, auch zu einem früheren Zeitpunkt wieder zurück in meine Heimat zu gehen. Aber dafür hätte ich in Frankfurt eine „Reueerklärung“ unterschreiben müssen, weil ich meine Heimat verlassen habe. Das hat dann die Konsequenz, dass ich nach der Überführung nach Eritrea direkt vom Militär eingezogen werden würde – das ist für mich gefährlich. Daher kommt das für mich nicht in Frage und deshalb weigere ich mich, das zu unterschreiben.

Was vermisst du, wenn du an deine Heimat denkst?
Alles! Meine Familie, einfach alles!

Wenn du drei Wünsche frei hättest, welche wären das?
Dass meine Mutter bei mir lebt und in Eritrea Frieden herrscht, so dass ich unbeschwert dorthin reisen könnte. Außerdem wünsche ich mir Gesundheit.

Wie findest du Ulm?
Ulm ist so toll - die Stadt ist meine zweite Heimat geworden. Ulm hat alles, was ich brauche. Es ist eine Stadt, die nicht zu groß oder klein ist. Die Stadt ist so schön und ich will hier nicht mehr weg. Ich habe Freunde hier gefunden und mich gut integriert. Ich habe mittlerweile eine eigene Wohnung.

Eritrea konnte sich 1993 nach 30-jährigem bewaffnetem Widerstand von Äthiopien trennen. Es gibt nur eine einzige zugelassene Partei, die aus der Unabhängigkeitsbewegung hervorgegangen ist. Der Staatspräsident und gleichzeitige Regierungschef ist Isaias Afewerki, der seitdem das Land regiert. Seit seiner Amtseinführung gab es keine Wahlen mehr. Das Parlament kommt nur zusammen, wenn der Präsident das wünscht - es gibt lediglich ein Einparteiensystem unter seiner Leitung. Die Opposition befindet sich im Exil, auf der Flucht oder in der Migration, was dazu führt, dass diese Minderheit außerhalb des Landes lebt.

Eritrea hat keine Verfassung und keine Gewaltenteilung, auch die bürgerlichen Rechte sind stark eingeschränkt. Von 1998 bis 2000 gab es einen Grenzkrieg mit Äthiopien, bei dem die Gesellschaft militarisiert wurde. Die Privatwirtschaft verschwand, es gibt nur noch staatliche Wirtschaftsunternehmen. Es wird geschätzt, dass der Krieg mit Äthiopien 600.000 Menschen das Leben gekostet hat. Eritreische Soldaten besetzten Teile Tigrays (Region in Äthiopien) und werden für schlimmste Menschenrechtsverletzungen wie Massenvergewaltigungen, Massaker, Aushungern von Menschen und Plünderungen verantwortlich gemacht. Zwar wurde 2018 ein Friedensvertrag mit Äthiopien geschlossen, aber es hat sich für die Eritreer dadurch nichts verändert. Zwar entspannte sich die Lage etwas, aber es haben bisher keine wirtschaftlichen und innenpolitischen Reformen stattgefunden.

Laut dem Spiegel haben von 2013 bis 2018 insgesamt 61.000 Eritreer Asyl in Deutschland beantragt - damit ist Eritrea das afrikanische Land mit der höchsten Zahl der Menschen, die in Deutschland Asyl beantragt haben.

In Eritrea gilt die Wehrpflicht für alle Geschlechter: Alle Teenager müssen für ihr letztes Schuljahr in ein Militärlager. Offiziell dauert der Wehrdienst 18 Monate, allerdings handelt es sich dabei inoffiziell meistens um einen jahre-/ jahrzehnterlangen Arbeitsdienst mit wenig Lohn.