Das Ulmer Münster
Das Wahrzeichen Ulms
Bekanntlich hat das Ulmer Münster den höchsten Kirchturm der Welt. Das trifft allerdings erst zu, seit er 1890 auf seine heutige Höhe gebracht war. Doch schon zuvor war diese Kirche ein Rekordbau gewesen. Ihr Fassungsvermögen von 20 000 Menschen lag weit über der Einwohnerzahl zur Zeit ihrer Gründung. Vor allem aber wurde sie finanziert von der Bürgerschaft.
Im Jahre 1488, genau 111 Jahre nach der Grundsteinlegung, notierte der weitgereiste Ulmer Dominikanermönch Felix Fabri die besonderen Vorzüge, welche das Ulmer Münster vor allen Pfarrkirchen der ganzen Christenheit habe. Erstens sei es die größte überhaupt und größer als viele bischöflichen Dome. Dann sei es die schönste aller Kirchen, wegen des Lichtes, das dank der Architektur in jeden Winkel dringen könne. Drittens besitze das Münster mehr Altäre als alle anderen Pfarrkirchen, nämlich 51. Und die würden, samt den dazugehörigen Geistlichen – mitunter bis zu fünf pro Altar –, ausschließlich von Ulmer Bürgern finanziert. So viele Geistliche gebe es in keiner vergleichbaren Pfarrkirche. Überhaupt sei in Ulm die Spendenfreude der Bürger größer als sonstwo, und sie lasse es zu, dass die Stellung des Ulmer Pfarrers der eines Bischofs gleiche.
Das Ulmer Münster, so behauptet Fabri 1488, sei besser besucht als alle anderen Kirchen der ganzen Christenheit: Trotz seiner Größe herrsche darin an Festtagen ein dichtes Gedränge bis an die Ecken des Altares, und für gewöhnlich nähmen dort zur Osterzeit mehr als 15 000 Menschen das Abendmahl ein. Es finde sich keine Pfarrei, in der täglich so viele Kinder getauft würden – durchschnittlich fünf. Entsprechend verhalte es sich mit Beichte und Abendmahl sowie mit den Bestattungen auf den beiden Kirchhöfen. In seiner Liste der Superlative hat uns Fabri die eigentliche Bedeutung des Ulmer Münsters mitgeteilt: Es war und ist die größte Bürgerkirche. Ihr Bau wurde von keinem kirchlichen oder weltlichen Fürsten finanziert, sondern von den Bürgern. Anschaulich wird dies im Bericht von der Grundsteinlegung. Die exakten Daten dieses Ereignisses sind, in Stein gemeißelt, im und am Münster nachzulesen: Anno Domini 1377, an dem Zinstag [Dienstag], der der letzt Tag was des Monat Junii, nach der Sunnen Ufgang dri Stund, von Haissen des Rates wegen [auf Ratsbeschluss], hie ze Ulm, lait Ludwig Kraft, Kraft am Kornmarkt seligen Sun, den ersten Fundamentstain an dieser Pfarrkirchen.

Das Gründungsrelief, das diesen Text enthält und in einem der südöstlichen Mittelschiff-Pfeiler sowie außen am Brautportal in die Kirchenmauer eingelassen ist, zeigt jenen Altbürgermeister Lutz Krafft. Gemeinsam mit seiner Frau bürdet er dem ersten Münster-Baumeister, Heinrich II. Parler, das Bauprojekt buchstäblich auf die Schultern. Das Relief zeigt auch, wie nach damaligem Planungsstand das Münster hätte aussehen sollen: Eine Hallenkirche mit drei gleich hohen Türmen.
Zu diesen dürren Daten liefert Fabri die Geschichte: Nachdem eine ungeheuere Grube ausgehoben war, versammelte sich dort am 30. Juni 1377 ganz Ulm. Altbürgermeister Lutz Krafft und einige der Vornehmsten der Stadt stiegen in die Baugrube. Mit einem Kran wurde der große Fundamentstein hinabgelassen. Den bedeckte Krafft mit 100 Goldstücken. Seinem Beispiel folgten die Patrizier und das Volk. Was hatte die Ulmer zu diesem Mammut-Projekt bewogen? Fabri nennt zum einen Sicherheitsaspekte: Die frühere Pfarrkirche hatte außerhalb der Stadtmauern gelegen, im heutigen Alten Friedhof. Sie zu besuchen, bedeutete während der häufigen kriegerischen Ereignisse ein erhöhtes Risiko für die Stadtbewohner.
Doch auch Geld spielte eine Rolle, denn die Spenden der Ulmer flossen in die innerhalb der Stadt gelegenen Klöster, deren Service fürs Seelenheil buchstäblich näher lag. Darüber hinaus wird eine Rolle gespielt haben, dass die alte Pfarrkirche auf Reichenauer Terrain lag und somit die Reichenauer Mönche das Anrecht auf den Pfarrzehnten hatten.
Nachdem der Baubeschluss für die neue Pfarrkirche gefasst war, wurde die alte – obwohl erst kurz zuvor um- oder neu gebaut – demontiert. Auf den Schultern sollen die Ulmer die Steine in die Stadt transportiert haben. Tatsächlich sind ganze Bauteile der alten Kirche ins Münster integriert worden, etwa das um 1360 geschaffene Braut- sowie die nördlichen Seitenportale, von denen eines die Jahreszahl 1356 trägt. Und ganz normale Steinquader der alten Kirche finden sich im Backsteinmauerwerk des Chores. Heute kann man sich kaum mehr vorstellen, dass die Ulmer des ausgehenden 14. Jahrhunderts ein Bauprojekt angefangen haben, von dem sie wussten, dass sie seine Fertigstellung nicht erleben würden. Konnten sie ahnen, dass dieses Werk eine Eigendynamik entwickeln würde, deren Ergebnis sich von den ursprünglichen Plänen gründlich unterscheiden sollte? Schließlich hat die relativ schlichte Hallenkirche auf dem oben erwähnten Gründungsrelief nicht mehr viel zu tun mit dem imposanten Bauwerk, das in der 1493 veröffentlichen Schedel’schen Weltchronik abgebildet ist – und praktisch gar nichts mehr dem „Stadtgebirge“, das sich heute aus der Altstadt erhebt.
Der Bau des Münsters war also ein Prozess mit ungewissem Ausgang. Architekten von internationalem Ruf, die in mehreren europäischen Kulturzentren tätig waren, haben daran gewirkt: Michael und Heinrich III. Parler hatten schon in Prag am Karlsdoms mitgebaut, und Heinrich III. ging später an die Dombauhütte in Mailand. Mitglieder der Parler-Familie leiteten die Dombauhütten in Prag, Strassburg, Wien und Ulm. Ulrich von Ensingen, der den Parlern in Ulm folgte und hier den kolossalen Hauptturm plante, war ebenfalls in Strassburg sowie in Esslingen anzutreffen; sein Sohn Matthäus Ensinger lernte in Strassburg. Ehe er nach Ulm kam, leitete er den Bau des Berner Münsters und der Esslinger Frauenkirche.
Auch Matthäus Böblinger war in Esslingen tätig gewesen, bevor er in Ulm einen neuen Plan für den Hauptturm vorlegte. Der sollte vier Jahrhunderte später Vorbild für die Turmvollendung sein. Böblinger hatte jedoch das Unglück, dass während seiner Zeit als Münsterbaumeister die ungenügende Fundamentierung des Hauptturmes nachgab.
Das Unglück an jenem Sonntag des Jahres 1492, als zwei Steine aus dem Gewölbe in die Kirche stürzten, schildert der Schuhmacher und Chronist Sebastian Fischer, der übrigens eigenhändig und etwas ungelenk die wohl originellsten Zeichnungen des Münsters angefertigt hat. Fischers Mutter hatte damals die Mittagspredigt besucht. Da flohen die Leut uß der Kirchen, denn sie meinten, das Münster wollte umfallen, berichtet er. Aber die Stein hetten niemants troffen. Ob der Baumeister tatsächlich fliehen musste, wie Fischer hinzufügt, ist umstritten, denn Böblinger ist noch drei Jahre später in den Hüttenbüchern des Münsters aktenkundig. Dieses Absenken des Turmes wurde stets als der Grund angegeben, warum der Bau nicht mehr wesentlich über den 1494 vollendeten Viereckskranz hinausgeführt wurde. Zwar hatte Böblinger bereits mit dem nächsten Abschnitt begonnen, der einen achteckigen Grundriss hat. Doch der wurde nach fünf Metern beendet und dann mit einem pyramidenförmigen Notdach geschützt. Böblingers Nachfolger Burkhard Engelberg gilt als Retter des Münsters. Dadurch dass er die noch relativ neuen Seitenschiffe teilte, verhinderte er, dass die Spannungen die Kirche zerrissen.

Gute zwei Jahrzehnte später, im November 1530, bekannten sich die Ulmer in einem Bürgerentscheid zum Protestantismus. Die Ausstattung der Kirche mit ihren über 50 Altären stand im krassen Gegensatz zur neuen Lehre. Die Folge war der „Bildersturm“ des Jahres 1531, der jedoch nicht als wilde Zerstörungs-Orgie misszuverstehen ist. Vielmehr legte der Rat den Besitzern der Altäre nahe, diese aus dem Münster zu entfernen. Manche mochten kein Interesse mehr an den damals aus der Mode gekommenen gotischen Kunstwerken gehabt und sie als „altes G‘lump“ verfeuert haben. Das Chorgestühl stellte der Rat unter seinen Schutz. Dieses einmalige Gesamtkunstwerk, das mit seinen Darstellungen griechischer und römischer Künstler, Gelehrter und Sibyllen den Geist des Humanismus atmet, war 1468 bis 1474 in der Werkstatt des Ulmer Schreinermeisters Jörg Syrlin d. Ä. entstanden. Wozu brauchte eine Bürgerkirche ein Chorgestühl? Dort werden wohl die zahlreichen Priester der Privataltäre Platz genommen haben. Vielleicht wollte Ulm aber
auch mit dem Domkapitel in Konstanz konkurrieren, das sich gerade ein solches Chorgestühl geleistet hatte.
© Reinhold Mayer
Im Jahr 1543, also 166 Jahre nach Baubeginn, ließ der Rat zur Verhütung von Kosten die Arbeiten am Münster einstellen. Doch auch als Torso galt es als die gewaltigste Kirche Deutschlands – selbst wenn das Strassburger Münster höher war.
Das Schicksal, nicht vollendet worden zu sein, teilte das Ulmer Münster mit einer ganzen Reihe weiterer mittelalterlicher Dome, etwa denen von Köln, Regensburg, Bremen und Meißen. Diese Tatsache lässt den Baustopp in einem anderen Licht erscheinen: Es waren wohl nicht nur statische und finanzielle Gründe, sondern eher der gewandelte Zeitgeist: Man wollte an der Schwelle zur Renaissance kein Geld mehr investieren in die Vollendung eines Bauwerks im Stile der inzwischen überholten Gotik. Erst der Nationalismus des 19. Jahrhunderts und die damit erwachende Begeisterung für das Mittelalter erhoben die Vollendung dieser Bauwerke – allen voran die des Kölner Doms – zur nationalen Aufgabe. In Ulm galt es jedoch zunächst einmal, das mittlerweile baufällig gewordene Münster vor dem Einsturz zu bewahren. Dabei wurde auch über den Ausbau des Hauptturms nachgedacht.
1844 wurde die Bauhütte wiedereröffnet. Das Kirchenschiff, das bei jedem Sturm stark schwankte, musste stabilisiert werden. Dazu spannte Münsterbaumeister Ferdinand Thrän zwischen 1856 und 1870 die 18 Meter weiten steinernen und dennoch so filigranen Strebebögen über die Seitenschiffe. Dann wurden die beiden Chortürme gebaut, die 1880 vollendet waren. Der Ausbau des Hauptturmes sollte sich an den Plänen des Matthäus Böblinger orientieren. Doch Münsterbaumeister August v. Beyer streckte den Turm um zehn Meter gegenüber dem ursprünglichen Plan, der 151 Meter vorgesehen hatte. Warum? Wollten die Ulmer den Kölner Dom mit seinen 157 Metern in den Schatten ihres Münsters stellen? Dieser heute noch gehegte Verdacht verlautete bereits während der Ausbau-Arbeiten aus Köln, wurde aber in Ulm entschieden zurückgewiesen. Der Ulmer Turm, so das Gegenargument, sei schon im Mittelalter mächtiger angelegt worden als die Kölner Türme. Als weiterer Grund für die Erhöhung wird die Perspektive geltend gemacht: Um die Proportionen des Turmes für die Betrachter auf dem Münsterplatz harmonischer erscheinen zu lassen, habe Beyer nicht nur die Höhe nach oben korrigiert, sondern auch das Verhältnis zwischen den beiden Abschnitten des neuen Teils zugunsten des oberen verändert.
Ob aus Rekordsucht oder aus ästhetischem Empfinden: Der Münsterturm war 161,53 Meter hoch, als Ulm am 31. Mai 1890 seine Vollendung feierte. Ein halbes Jahrhundert später, am 17. Dezember 1944 legten alliierte Bomber Ulm in Schutt und Asche. Das Münster aber überstand den Feuersturm fast unbeschädigt. Die Stadt durfte ihr wichtigstes Identitätsmerkmal behalten.
Und was bedeutet das Münster den Ulmern heute? Natürlich bildet es eine wesentliche Grundlage ihres Selbstbewusstseins. Ihre Urangst, das Münster könnte einmal umfallen, geht sogar so weit, dass sie gelegentlich etwas für die Erhaltung dieses Bauwerkes spenden. Und im Auto-Zeitalter lernen die Ulmer Kinder ihre Bürgerkirche als ein Zeichen des Trostes kennen: Taucht nach ätzend langweiligen Überlandfahrten am Horizont die Münsterspitze auf, so ist die heimische Garage nicht mehr weit.
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