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Geschichte des Schwörmontags

„Reichen und Armen ein gemeiner Mann zu sein“ – auf gut Deutsch sich für alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen einzusetzen: Dies gelobt das Ulmer Stadtoberhaupt in einer seit 1345 verbürgten Eidesformel am jährlichen Schwörmontag, einem einzigartigen Rechtsbrauch. Anschließend wird gefeiert – erst auf der Donau und dann in der ganzen Stadt.

Schwörmontag ist der Tag der Ulmer. Er fällt auf den vorletzten Montag im Juli. Das politische Ulm freut sich auf die Schwörfeier, in welcher der Oberbürgermeister Rechenschaft ablegt. Sie kennzeichnet Beginn und Ende des politischen Jahres in Ulm, nach dessen Ablauf die kommunalpolitische Sommerpause ausbricht.

Wem die Schwörfeier zu trocken ist, der freut sich auf das nachmittägliche Nabaden (= Hinab-Baden) in der nassen Donau, das man Fremden am besten als karnevaleskes Treiben auf dem Wasser übersetzt. Und Freunde feuchtfröhlicher Zusammenkünfte der anderen Art fiebern dem abendlichen Massen-Umtrunk entgegen, der auch für die Kinder insofern wichtig ist, als sie dabei in der Friedrichsau ihre Lampions ausführen dürfen.

Die Erwachsenen bevölkern jedoch längst nicht mehr nur die Au, wie dies bis in die 1980er Jahre üblich war. Die Innenstadt gleicht einem Hexenkessel, durch den sich eine dampfende Menschenmenge schiebt. An mindestens einem Dutzend Plätzen werden Live-Konzerte für jeden Geschmack geboten. Das größte ist auf dem Münsterplatz, auf dem bereits am Abend vor dem Schwörmontag eine hochkarätig besetzte Open-Air-Party Tausende von Zuschauern angezogen hat.

Was ist ein „Schwörmontag“? Wer schwört hier wo wem was und warum? Es ist der Ulmer Oberbürgermeister, der alljährlich vom Balkon des Schwörhauses aus den Ulmern zunächst berichtet, was sich in der Stadt seit dem vergangenen Schwörmontag getan hat. Anschließend erhebt er die rechte Hand und gelobt dem Stadtvolk, Reichen und Armen ein gemeiner Mann zu sein in allen gleichen, gemeinsamen und redlichen Dingen ohne allen Vorbehalt, so wahr ihm Gott helfe. Das ist die Schwörformel, mit der die jährliche Schwörrede endet. Das Eigenschaftswort „gemein“ ist in diesem Falle mit „Gemeinschaft“ und nicht mit „Gemeinheit“ zu verbinden. Diese Schwörformel ist mindestens sechseinhalb Jahrhunderte alt. Sie steht bereits in der ersten Verfassung, die in Ulm alljährlich nicht nur vom Bürgermeister, sondern auch von der Bürgerschaft beschworen und höchstwahrscheinlich im Jahr 1345 verabschiedet wurde. Damals gelobte der Bürgermeister noch auf gut mittelhochdeutsch, ain gemainer man ze sin richen und armen uf alliu gemainiu und redlichiu ding.

Die Wendung Reiche und Arme zielte weniger auf die Eigentumsverhältnisse als vielmehr auf die gesellschaftliche Position: Sie war die amtliche Umschreibung für die beiden wichtigsten Stände, nämlich für den Stadtadel, auch „Patrizier“ oder „Geschlechter“ genannt, und für die Zünfte. Der Bürgermeister war stets ein Patrizier. Sein Versprechen, beiden Parteien gleichermaßen dienen zu wollen, war damals von besonderer Bedeutung. Denn auch in Ulm kämpften die wirtschaftlich erstarkten Zünfte im 14. Jahrhundert um einen Anteil an der politischen Macht, der ihrer starken wirtschaftlichen Stellung entsprach.

Wie stark die war, ist in Ulm heute noch täglich mit dem Blick auf das Münster zu erfassen. Dessen wahre Größe gipfelt nämlich nicht im höchsten Kirchturm der Welt. Denn der hat die Rekordmarke von 161,53 Metern erst bei seiner Vollendung 1890 erreicht. Die wahre Bedeutung liegt vielmehr darin, dass das 1377 gegründete Ulmer Münster die größte Bürgerkirche im deutschsprachigen Raum ist.

Das heißt: Das Münster wurde nicht von irgendwelchen kirchlichen oder weltlichen Potentaten finanziert, sondern von den Bürgern der Stadt. Und es darf wohl behauptet werden, dass die Mittel der Patrizier allein dafür nicht ausgereicht hätten. Somit ist das Ulmer Münster sichtbares Zeichen dafür, dass die Stadt im 14. Jahrhundert in hoher wirtschaftlicher Blüte stand – und das war die Leistung der Zünfte.

Die konnten allerdings erst nach harten Auseinandersetzungen, welche der Sage nach recht blutig verlaufen sind, den politischen Einfluss erringen, der ihnen zukam. Die bereits erwähnte Verfassung von 1345, auch „Kleiner Schwörbrief“ genannt, schrieb fest, dass die Zünfte die Mehrheit im Rat hatten. Der umfasste 32 Mitglieder, davon 17 aus den Zünften und 15 aus dem Patriziat – den Bürgermeister mitgerechnet.

Allerdings scheint diese relativ knappe Mehrheit nicht ausgereicht zu haben, um die Vorherrschaft der Patrizier zu brechen. Trotz des jährlich von der Gemeinschaft beschworenen Willens zur friedlichen Koexistenz flammten erneut Konflikte auf, aus denen die Zünfte abermals als Sieger hervorgingen. Der Rat wurde um 40 Mitglieder erweitert, wovon 30 von den Zünften und nur 10 von den „Geschlechtern“ entsandt wurden. Somit stand das Verhältnis nunmehr 47:25 für die Zünftler. Und diese neuen Zustände wurden festgeschrieben in der Verfassung von 1397, dem "Großen Schwörbrief". Jene neue Verfassung war es nun, die Jahr für Jahr am St.-Jörgen-Tag, dem 23. April, von Stadtregierung und Stadtvolk beschworen wurde. Doch diese Tradition wurde von Kaiser Karl V. im August 1548 jäh beendet. Er wollte den Einfluss der Zünfte brechen, verbot sie, jagte ihre Vertreter aus dem Rat und reduzierte diesen auf 32 Mitglieder. Das war auch das vorläufige Ende des Schwörtages. Doch die Ulmer wollten sich damit nicht abfinden und erreichten schließlich, dass sie ihren Verfassungstag wieder in gewohnter Weise begehen durften. Von 1558 an gab es also wieder einen Schwörtag, welcher der Form nach dem alten entsprach. Doch die politischen Kräfteverhältnisse waren umgekehrt: Der seit 1556 auf 42 Mitglieder aufgestockte Rat blieb aristokratisch beherrscht. Und noch etwas hatte sich geändert: Die jährliche Ratswahl musste, wohl in Erinnerung an das kaiserliche Zunftverbot, im August stattfinden, und der drei Tage später folgende Schwörtag fand am Montag in der Laurentiuswoche (Laurentius = 10. August) statt.

Dabei blieb es, bis Ulm 1802 den Status der Freien Reichsstadt verlor und bayerisch wurde. Damit hatte die Stadt keine eigene Verfassung mehr, welche es zu beschwören galt.

Und damit hatte der Schwörtag seinen Sinn verloren. Das geschah auch in anderen Städten, denn der Schwörtag war keineswegs ein Ulmer Spezifikum, sondern vor allem in den Städten Süddeutschlands und der Schweiz, aber auch weiter nördlich verbreitet. Was die Ulmer allerdings von den anderen unterschied, ist die Hartnäckigkeit, mit der sie auch jetzt wieder an ihrem Schwörtag festhielten.

Dies äußerte sich darin, dass nach dessen Verschwinden zumindest der gesellige Teil, nämlich das Feiern, unverdrossen weiterzelebriert wurde, bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder der Wunsch nach einer Wiederbelebung auch des politischen Schwörmontags laut wurde.

Es darf nicht verschwiegen werden, dass es die Nationalsozialisten waren, die mit ihrem untrüglichen Sinn für propagandistische Effekte diesen Wunsch geschickt aufgegriffen haben und ihren Oberbürgermeister am Schwörmontag des Jahres 1933 mit einer Massenveranstaltung im Stadion inthronisierten. Auch der jährliche Rechenschaftsbericht des Oberbürgermeisters ist ihre Erfindung.

Dessen ungeachtet behielt Ulm nach dem Krieg den politischen Schwörmontag bei. Doch während die Nazis ihn genutzt hatten, um den Gedanken von Führerschaft und Gefolgschaft zu suggerieren, trat nun das demokratische Element in den Vordergrund. Die alte Schwörformel wurde wiederbelebt und wird, ins Neuhochdeutsche übersetzt, seit 1949 alljährlich vom Ulmer Oberbürgermeister neu beeidet. Vielleicht fragt sich nun die Eine oder der Andere angesichts der jährlichen Wiederkehr dieses Schwurs, ob denn ein Eid, der ja normalerweise kein Verfallsdatum kennt, nur von begrenzter Haltbarkeit ist, wenn er von einem Ulmer Stadtoberhaupt gesprochen wird. Die Antwort liegt in der Reichsstadtzeit.

Damals nämlich wurde, wie oben schon angedeutet, der Bürgermeister jährlich neu gewählt und legte am Schwörtag seinen Amtseid ab. Heute spricht der Oberbürgermeister seinen offiziellen Amtseid natürlich nur einmal, beim Amtsantritt. Dass er darüber hinaus alljährlich gelobt, allen ein gemeiner Mann zu sein, wertet niemand als Indiz für verminderte Glaubwürdigkeit. Schließlich handelt es sich hier um Tradition.

Überaus traditionsreich ist auch der Ort, wo die Schwörfeier stattfindet, der Weinhof. Es ist der älteste Teil der Stadt. Hier war die Königspfalz, in der am 22. Juli 854 jene Urkunde besiegelt wurde, die erstmals Ulms Existenz nachweist. Hier wurde schon immer geschworen, zunächst in einem „Schwörhäuslein“, einer Arkade, die an den Turm der Pfalzkapelle angebaut war.

Turm und Kapelle wurden abgerissen und 1612 durch ein neues Schwörhaus ersetzt, was einmalig ist. Denn die Ulmer waren die einzigen, die für diesen einmal im Jahr stattfindenden Schwörakt eigens ein solch stattliches Haus gebaut haben. 1785 ist es abgebrannt, aber vier Jahre später wiedererrichtet worden. Nach schweren Beschädigungen im letzten Krieg wurde das Schwörhaus am Schwörmontag 1954 zur Ulmer 1100-Jahrfeier erneut „in Betrieb genommen“.

Untrennbar mit dem Schwörmontag verbunden ist heutzutage das Nabada. Zur Reichsstadtzeit fand alle zwei Jahre am Dienstag nach dem Schwörtag das Fischerstechen statt, und in den Jahren dazwischen huldigten ebenfalls die Fischer dem Brauch des „Bäuerle-Herunterfahrens“. Das war ein Klamauk auf der Donau, der zu den Vorläufern des Nabadens zu rechnen ist. Hinzu kamen während des 19. Jahrhunderts weitere Elemente wie die biedermeierlichen Wasserfahrten und Wasserpantomimen, die auch an manchem Schwörtag veranstaltet wurden. Das namengebende Nabaden war zunächst ein schlichtes sommerliches Badevergnügen gewesen, ein Sich-Hinuntertreiben-Lassen zu den Ausflugsstätten.

Daraus hat sich mittlerweile ein regelrechtes Volksfest in der Donau entwickelt. Daneben gleiten seit 1967 am Samstag vor dem Schwörmontag 8.000 Lichter die Donau hinunter, die aus den Ulmer Schachteln aufs Wasser gesetzt werden: die Lichterserenade. Die Schwörwoche vor dem Schwörmontag ist gefüllt mit Veranstaltungen. Alle vier Jahre findet vor dem Schwörmontag das Fischerstechen statt und – alternierend – ebenfalls alle vier Jahre der Ulmer Bindertanz.

Der Schwörmontag ist den Ulmern also der Festmittelpunkt des Jahres. Das war schon immer so, und das dürfte auch der Grund gewesen sein, warum er als einziger Schwörtag das Ende der Reichsstädte überlebt hat – und heute lebendig ist wie nie zuvor.

Text: Wolf-Henning Petershagen