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Der Schneider von Ulm: Die Tragik eines Flugversuchs

Die Geschichte des genialen Albrecht Ludwig Berblinger

Zeichnung eines Geräts mit zwei Flügeln, das sich ein Mann um die Schultern geschnallt hat

„Der Schneider von Ulm hat's Fliega probiert - no hot'n der Deifel en d' Donau nei g'führt.“ So lautet der gängige Spottvers auf Albrecht Ludwig Berblinger. Der Umgang mit ihm ist schizophren: Einerseits dient der Schneider von Ulm der lokalen Folklore als Witzfigur, andererseits feiert ihn die ganze Stadt als ihren Pionier der Luftfahrt.

Nach wie vor wird über den geflügelten Frackträger gelacht, wenn er bei den Ulmer Hauptfesten, dem Nabada oder dem Fischerstechen, ins Wasser purzelt. Doch längst ist Albrecht Ludwig Berblinger als Erfinder und Konstrukteur rehabilitiert. Zum Gedenken an den Mann, der als erster Gleitflieger in die Geschichte der Luftfahrt eingegangen ist, lobte die Wissenschaftsstadt Ulm 1988 erstmals den „Berblinger-Preis“ aus. Über mehrere Jahrzehnte hinweg motivierte der Preis Flugzeugbauer in aller Welt dazu, die Sicherheit, Umweltverträglichkeit, Aerodynamik, Bauweise und Wirtschaftlichkeit zu verbessern.

1996 fand der weltweit erste Wettbewerb mit solargetriebenen Flugzeugen statt, das „Berblinger-Solar-Vergleichsfliegen“. Seit 1998 stiftet die Deutsche Gesellschaft für Luft- und Raumfahrtmedizin (DGLRM) alljährlich zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses den „Albrecht-Ludwig-Berblinger-Preis“. Und 2020 wurde im Rahmen des Innovationswettbewerbs der Stadt Ulm zum ersten Mal der „Berblinger-Innovationspreis“ vergeben.

Origianlzeichnung von  „Kunstgliedern“ für Beine, die man heute als Prothesen bezeichnen würde

Von Berblinger entworfene Prothesen, „Kunstglieder“

Wer war dieser Albrecht Ludwig Berblinger? Schneider war er von Beruf, nicht aus Berufung. Geboren ist er am 24. Juni 1770 als siebtes Kind seiner Eltern. Der Vater starb, als Albrecht Ludwig 13 Jahre alt war. Der Bub kam ins Waisenhaus und wurde in eine Schneiderlehre geschickt, obwohl er sich viel mehr für die Mechanik interessierte.

Doch auch im Schneiderhandwerk war er erfolgreich: Bereits mit 21 Jahren brachte er es zum Meister. Sein Erfindergeist zeigte sich, als er dem Invaliden Elias Schlumperger buchstäblich wieder auf die Beine half. Dem hatte ein explodierender Böller den Fuß weggerissen. Anstatt der damals üblichen hölzernen Stelze verfertigte Berblinger 1808 eine „künstliche Fußmaschine“, die tatsächlich wie ein Bein aussah und sich wie eine heutige Prothese in den Gelenken bewegte.

Zeichnung eines Geräts mit zwei Flügeln, das sich ein Mann um die Schultern geschnallt hat.

Abbildung der Flugmaschine in einem Kupferstich von 1811

Der Traum vom Fliegen lag damals in der Luft. Auch Berblinger war davon besessen. In Wien hatte der Uhrmacher Jacob Degen bereits Flugversuche unternommen, indem er sich durch Flügelschlagen und mit Hilfe eines Ballons in die Lüfte erhob. Berblinger mag Degens Fluggerät, von dem Bilder existierten, gekannt und vielleicht auch dessen Form übernommen haben, aber mit verändertem Prinzip: Ihm schwebte das Hinabgleiten von einem erhöhten Ausgangspunkt vor. Er konstruierte einen filigranen Flugapparat und probierte ihn am Michelsberg aus mit Erfolg, wenn man Augenzeugenberichten glauben darf.

Berblinger selbst hat keine Konstruktionszeichnung seiner Flügel hinterlassen. Die Vorstellung, die man heute davon hat, beruht auf der Abbildung durch den Kupferstecher Johannes Hans, die allerdings bis auf wenige Details identisch ist mit einer Darstellung des Degen’schen Fluggerätes aus dem Jahr 1807. Daher bestehen Zweifel, ob Hans‘ Kupferstich tatsächlich das Berblinger’sche Konstrukt zeigt .

Zwei runde, spitz zulaufende Flächen, die an die Form von Flügeln erinnern, sind mit Schnüren zusammengebunden. Sie sind rot-weiß-gestreift.

Nachbau des Fluggeräts von Albrecht Ludwig Berblinger im Ulmer Rathaus

Ulm, ehemals freie Reichsstadt, war 1802 Bayern und 1810 Württemberg einverleibt worden. Als Berblinger im Mai 1811 seinen ersten öffentlichen Flugversuch starten wollte, erwartete Ulm den ersten Besuch seines neuen Landesvaters, des württembergischen König Friedrich I. Was konnte man ihm Spektakuläreres bieten als einen Flug? Also wurde Berblingers Vorhaben auf den Termin gelegt, zu dem der König in Ulm weilte. Da die Ulmer Bürgerschaft nicht vorhatte, sich vor ihrem neuen Souverän zu blamieren, muss Gewissheit darüber bestanden haben, dass der Flug gelingen würde. Das gilt auch für die königlichen Behörden, ohne deren Genehmigung nichts ging ein Indiz dafür, dass Berblingers Gleit-Übungen am Michelsberg funktioniert haben.

Die dabei gewonnenen Erfahrungen mögen Berblinger veranlasst haben, auf seinen Startpunkt, die zwölf Meter hohe Adlerbastei, noch ein sieben Meter hohes Gerüst zu stellen, um aus 19 Metern Höhe die Donau zu überfliegen. Bis zum Schwal - der Spitze der dort endenden Donau-Insel - waren es 54 Meter, bis ans Ufer 64 Meter.

In Gegenwart des Königs legte Berblinger am 30. Mai hoch auf dem Gerüst seine Flügel an. Doch als er springen sollte, wurde er unsicher, prüfte das Gerät. Dann erklärte er, es sei an einem Flügel etwas gebrochen, er könne daher nicht fliegen. Der König zeigte sich nachsichtig und schenkte dem verhinderten Flieger 20 Louisdor.

Zeichnung des Flugs des Schneiders von Ulm vor aufgeregtem Publikum

Humoristischer Kupferstich aus dem Jahr des Flugversuchs

Tags darauf trat Berblinger zu einem zweiten Versuch an, diesmal vor dem Bruder des bereits abgereisten Königs. Doch er zögerte erneut: Hoch über der Donau fehlte ihm der Aufwind, der ihn am Michelsberg getragen hatte. Die Gesetze der Thermik, die dies verursachten, waren damals noch unbekannt. Ob er dennoch freiwillig sprang oder ob ihn, wie behauptet wird, ein Polizeidiener gestoßen hat: Berblinger stürzte wie ein Stein ins Wasser, aus dem ihn Schiffleute retteten. Die Reaktionen waren gnadenlos - nicht nur seitens der Spießer, die ja schon immer gewusst hatten, dass der Mensch nicht fliegen kann. Auch fortschrittlich Gesinnte äußerten vernichtende Kritik.

Dem physischen Absturz folgte der gesellschaftliche. Eben noch für würdig befunden, die Stadt vor dem König zu repräsentieren, wurde Berblinger nun von ihr verachtet und verlor seine Existenzgrundlage. Im Februar 1812 trat er als Regiments-Schneider in den Dienst des in Ulm stationierten Königlichen Cheveaulegers-Regiment Nr.1. Zur Ehrenrettung Ulms sei festgestellt, dass ihm in dem dafür benötigten Zeugnis mehrere sehr angesehene Persönlichkeiten der Stadt bestätigten, seine Profession gut zu verstehen und ein erfinderischer Kopf zu sein. Dass er kein Vermögen habe, ist dem Schrieb ebenfalls zu entnehmen.

Zeichnung von Albrecht Ludwig Berblinger, der mit seiner Flugmaschine in die Donau fällt

Alte Postkarte mit der Szene des misslungenen Flugversuchs

Ein erster Versuch, sich aus Elend und Resignation aufzurappeln und erneut bei einem Regiment als Schneider zu dienen, scheiterte. Berblinger galt fortan als Spieler und Trinker, als gescheiterte Existenz. Seine Frau Anna starb 54-jährig im März 1820 an „Abzehrung“. Im zweiten Versuch eines Neuanfangs bot Berblinger per Inserat seine Dienste als Schneider und Tapezierer an, wollte sogar Lehrbuben einstellen. 1822 heiratete er zum zweiten Mal. Aus dieser Ehe gingen zwei Kinder hervor, die aber bald starben.

Die Not blieb an ihm haften. Als er sonst nirgends mehr unterkam, zog er zu seinem Bruder Daniel in die Hafengasse. Am 28. Januar 1829 starb Albrecht Ludwig Berblinger im Ulmer Spital, auch er an „Abzehrung“. Er war 58 Jahre alt geworden. Wo sein Grab ist, weiß niemand. Sein Flugapparat soll, mündlicher Überlieferung zufolge, noch viele Jahre auf einem Dachboden in der Nähe des alten Stadtbades aufbewahrt worden sein.

Der Berblinger-Turm ist begehbar und neigt sich schräg am Ufer der Donau

Der Berblinger-Turm an der einstigen Absprungstelle

Berblinger hat die Dichter und Denker nicht mehr ruhen lassen. Den Verfassern ignoranter Spottverse folgten allmählich andere, welche sich der Tragik des Falles annahmen. Der Ingenieur und Schriftsteller Max Eyth hat Berblinger in seinem 1906 erschienenen Roman „Der Schneider von Ulm“ rehabilitiert. Der Untertitel lautet: „Geschichte eines zweihundert Jahre zu früh Geborenen“. Bereits 1902 hatte der Ulmer Künstler Gregor Heyberger einen Monumental-Brunnen für die Adlerbastei entworfen, auf dessen Säule ein eleganter, mit Engelsflügeln versehener Berblinger mit gezogenem Hut selbstbewusst die Betrachter grüßt. Dieser Brunnen wurde nie verwirklicht, doch seit 2020 steht an seiner Stelle ein noch publikumswirksameres Denkmal: der Berblinger-Turm. Berblingers 250. Geburtstag bot den Anlass zur Errichtung dieser um 10 Grad geneigten, 20 Meter hohen begehbaren Wendeltreppe, deren oberes Ende an Flügel erinnert.

Nachdem Künstler, Literaten, Komponisten und auch Filmemacher den verkannten Schneider rehabilitiert hatten, folgten die Flieger. Anlässlich der 175. Wiederkehr des Unglückstages veranstaltete die Stadt Ulm 1986 am Schauplatz des damaligen Geschehens einen Berblinger-Flugwettbewerb. Trotz der bekannt widrigen thermischen Verhältnisse an jenem Ort gelang es schließlich einem Teilnehmer, über die Donau zu segeln. Damit war der Ruf des Schneiders endgültig gerettet wenn auch für ihn entschieden zu spät.

Text: Dr. Wolf-Henning Petershagen

Stadtkarte mit Sehenswürdigkeiten zum Schneider von Ulm

© Stadt Ulm/ Abteilung Vermessung

Sehenswürdigkeit/ Denkmal:

  • Im Rathaus hängt ein Nachbau von Berblingers Flugapparat. Er kann während der Gebäudeöffnungszeiten besichtigt werden. (Bushaltestelle „Rathaus“)
  • Auf der Adlerbastei erinnert der Berblinger-Turm an das Gerüst, von dem aus Berblinger seinen Flugversuch wagte. Darunter, an der Stadtmauer, ist eine dreieinhalb Meter hohe Schere aus Edelstahl aufgestellt. (Bushaltestelle „Haus der Begegnung“)
  • Am Münsterplatz 10 stand das Haus, worin Albrecht Ludwig Berblinger 1801 seine Werkstatt betrieb und wo er 1821 vorübergehend wohnte. Eine Gedenktafel an der Fassade des heutigen Gebäudes erinnert daran. (Bushaltestelle „Rathaus“)
  • Die Bronze-Skulptur aus dem Jahr 1982 unweit des Bahnhofes stellt eine Verbindung zwischen Berblingers Flugapparat und dem ersten Überschall-Passagierflugzeug, der Concorde, dar.
  • Im Schiefen Haus wohnte Berblingers Witwe Anna Maria von etwa 1857 bis 1860.
  • Im Ulmer Münster wurde der 21-jährige Berblinger 1792 mit Anna Scheiffelin getraut.


Ehemalige, nicht mehr erhaltene Gebäude:

  • Am 28. Januar 1829 starb Berblinger im Spital an Abzehrung.
  • Bei den alten Röhren stand das Haus, auf dessen Dachboden Berblingers Flugapparat noch jahrelang aufbewahrt worden sein soll.

Karte und Beschreibungstexte als Download:
Karte Sehenswürdigkeiten Schneider von Ulm (4,11 MB, pdf)