Mohammed S.
Mohammed S. aus Gaza, Palästina, war fünf Jahre lang alleine auf der Flucht. Heute ist er 19 Jahre alt.
Für Mohammed gab es nur zwei Zukunftsperspektiven in seiner Heimat, wie für viele junge Männer aus diesem Land: Entweder er begibt sich in Haft oder wird Soldat. Sein Weg bis nach Ulm war mehr von Tiefen als Höhen geprägt. Trotzdem sagt er, dass er seine Flucht keine Sekunde lang bereut hat. Da Mohammed Analphabet ist und kein Deutsch beherrscht, wurde das Interview mit einer Dolmetscherin geführt. Die Heimleiterin hat ihn zu dem Interview begleitet und konnte auch über seinen bisherigen Lebensweg berichten.
Wie hast du in Gaza, in Palästina gelebt?
Ich habe mit meiner Familie und meinen fünf Geschwistern in Gaza gelebt. Ich hatte die Nase voll von den Hamas. Im Jahr 2017/2018 habe ich an einer Demonstration in Jerusalem teilgenommen und mir wurde ins Bein geschossen - es war allerdings ein Zufall, dass ich getroffen wurde. Die Hamas haben damals die Situation provoziert, daher ist es zu Schüssen gekommen. Die ärztliche Versorgung ist dort eine ganz andere als hier. Mir wurde auf die Schussverletzung ein Pflaster aufgeklebt und ich bin ambulant von Ärzten in Gaza versorgt worden. Das war der Anlass, dass ich meine Heimat verlassen wollte.
Was haben deine Eltern dazu gesagt, dass du flüchten wolltest?
Sie wussten davon und waren direkt einverstanden. Oftmals schicken die Eltern ihre Kinder auf die Flucht in der Hoffnung, dass sie bessere Zukunftsperspektiven haben werden. Insbesondere junge Männer haben in meiner Heimat keine anderen Möglichkeiten.
Wie ist es dann weitergegangen?
In Gaza habe ich mir ein Touristenvisum in einem Reisebüro organisiert und bin dann von Gaza aus in die palästinensische Stadt Rafah gelaufen. Von dort aus bin ich nach Ägypten geflogen, dann in die Türkei. Nachdem ich acht Monate in der Türkei war, habe ich einen Schleuser kennengelernt. Der wollte natürlich Geld für die Fahrt nach Griechenland. Aber ich hatte mit ihm vereinbart, dass ich ihm die 30 Menschen für die Fahrt organisiere und er mich dafür umsonst mitfahren lässt. So haben wir das dann gemacht. In Griechenland war ich dann zunächst in einer Flüchtlingsunterkunft. Da ich minderjährig war, haben sich ältere Frauen in Griechenland um mich gekümmert und mich nach Athen gebracht. Als ich dann volljährig wurde, bin ich nach Kos gegangen. Seit vergangenem Jahr im August lebe ich in Ulm.
Wie bist du nach Deutschland gekommen?
Ich habe einen Freund in Deutschland, der mir half, mit dem Flugzeug nach Stuttgart zu kommen. Dann wurde ich nach Ellwangen gebracht und schließlich nach Ulm.
Wie konntest du dich während deiner Flucht versorgen, ganz ohne Arbeit?
Meine Mutter hat mir 100 Dollar pro Woche zukommen lassen. So konnte ich mich selbst versorgen.
Hast du regelmäßigen Kontakt zu deiner Familie?
Ja, wir telefonieren alle paar Tage. Wobei der Kontakt etwas abgeschwächt ist, denn in letzter Zeit kommen vermehrt Anfragen nach Geld. Mein Vater hat mittlerweile eine neue Familie und meine Mutter ist alleinerziehend. Mein Bruder möchte auch demnächst fliehen - auch er hat keine Perspektive in der Heimat. [Anmerkung der Begleiterin: „Die familiäre Situation belastet ihn sehr.“]
Wie ist das, dass du von deiner Familie schon so lange getrennt bist?
Normal. [Anmerkung der Dolmetscherin: „Er sagt zwar, dass es für ihn normal ist, aber ich merke gerade, dass er sehr emotional ist.“]
Wenn du drei Wünsche freihättest, was würdest du dir wünschen?
Ich hätte gerne irgendwann ein Haus, möchte unbedingt die deutsche Sprache lernen und irgendwann heiraten [dabei lächelt er].
Bereust du deine Flucht?
Die Situation in Gaza ist für mich absolut nicht tragbar, ich habe meine Flucht keine Sekunde bereut.
Hättest du dir vorher ausgemalt, dass deine Flucht mit solchen Schwierigkeiten/ Herausforderungen verbunden ist?
Ich glaube an das Schicksal und mir war von Anfang an bewusst, dass ich ein Risiko eingehe. Ich hatte keine Alternative in meiner Heimat.
Was möchtest du mal beruflich machen?
Ich würde alles machen, egal, welchen Beruf. Hauptsache ich verdiene Geld.
Was vermisst du am meisten an deiner Heimat?
Den Strand und meine Familie.
Anmerkung der Hausleiterin Mähringer Weg, die Mohammed zu diesem Interview begleitet hat:
Man darf wirklich nicht vergessen, dass Mohammed als Kind alleine auf der Flucht und seitdem komplett auf sich selbst gestellt war. Er hat keine Schule besucht und ist somit ein Analphabet. Aber nun ist er 19 Jahre alt, volljährig und offiziell erwachsen. Aber eigentlich ist er nicht erwachsen. Er braucht Zuwendung, Hilfe und Unterstützung, denn er lebt seit seinem 14. Lebensjahr auf der Straße. Bei solch einer Entwicklung ist es auch nicht verwunderlich, dass er auch mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist: Diebstähle, Schwarzfahren und auch der Konsum von illegalen Rauschmitteln. Es gab viel Unruhe und Polizeieinsätze. Auch gab es unter den Bewohnern Konflikte, in denen er bedroht und massiv misshandelt wurde. Er fühlt sich oft nicht sicher. Aber ich muss ganz klar sagen: Mohammed hat ein Unrechtbewusstsein und möchte für seine Taten Verantwortung übernehmen, für seine Strafen bezahlen. Das ist ihm sehr wichtig. Ihm fehlt noch die innere Ruhe, aber er ist sehr interessiert und gewillt zu lernen und etwas aus seinem Leben zu machen. Er braucht Beistand und erhält auch Unterstützung von verschiedenen Hilfsorganisationen. Demnächst wird er Sozialstunden leisten und wir erhoffen uns davon unter anderem auch, dass er die deutsche Sprache schrittweise lernen wird. Denn das muss er, um voranzukommen. Fünf Jahre Flucht und eine geraubte unbeschwerte Jugend gehen nicht so einfach spurlos an einen jungen Menschen vorüber. Er ist schulisch und emotional total auf der Strecke geblieben. Es ist wichtig, dass man diese Menschen nicht vorverurteilt, sondern schaut, was dahintersteckt.
Anmerkung der Dolmetscherin:
Ich habe oft – insbesondere bei jungen geflüchteten Menschen – festgestellt, dass gerade diese ihre eigene Muttersprache, insbesondere die Grammatik, überhaupt nicht gut beherrschen. Sie besuchen keinen Kindergarten oder Schule und wachsen auf der Straße auf. Dort lernen die den Slang und sprechen diesen dann auch im Erwachsenenalter. Ich erkläre es mir, dass daher das sprachliche Defizit kommt. So auch im Fall von Mohammed.
Insbesondere seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurden weltweit Juden verfolgt und ausgegrenzt. Vor und während des 2. Weltkrieges flüchteten viele Juden vor dem Holocaust. Bis 1948 verwaltete Großbritannien Palästina als britisches Mandatsgebiet. Die UN erstellte 1947 einen Plan, Palästina (muslimisch) und Israel (jüdisch) aufzuteilen. Da Jerusalem für die Religionen Judentum, Christentum und Islam eine große Bedeutung hat, ließ sich diese Stadt nicht einfach willkürlich aufteilen, denn die Juden leben seit über 2000 Jahren in Jerusalem und für die Moslems ist Jerusalem sehr wichtig, da Mohammed ihrem Glauben zufolge dort in den Himmel aufgestiegen ist und die wichtigsten Moscheen sich hier befinden. Daher konnte die Stadt nicht geteilt werden, obwohl beide Religionen ihren Anspruch auf diese Stadt erheben. Seit 1948 kam es immer wieder zu israelisch-arabischen Kriegen. Israel wurde immer größer und die Israelis verdrängten die Palästinenser, die die Gebiete Israels nicht anerkannten. Die Palästinenser forderten ihren eigenen Staat und so hält der Konflikt bis heute an.
Der Gazastreifen ist bereits seit vielen Jahren Mittelpunkt des Nahostkonflikts und mit viel Gewalt verbunden. 1967 eroberte Israel das Küstengebiet in einem Sechs-Tage-Krieg. 2005 zog sich nach 40 Jahren die israelische Besatzung zurück. Die Hamas, eine radikal-islamische Terrorgruppe, sehen sich seit 2006 als legitime Regierungsmacht, weil sie die Parlamentswahlen gewonnen hatten. Die Grenzen zu Nachbarstaaten sind komplett dicht, es kommt immer wieder zu gewalttätigen Zwischenfällen mit Israel. Gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den Palästinensern und dem israelischen Militär bestimmen heute noch den Alltag.
Es herrscht in Palästina ab dem 18. Lebensjahr eine strenge Wehrpflicht: Für Frauen dauert diese zwei Jahre, für Männer drei Jahre.