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Bauhüttenwesen als UNESCO-Immaterielles Kulturerbe anerkannt – Ulmer Münsterbauhütte ist mit dabei

Ein Schwarz-Weiß Bild aus dem Jahr 1899. Die damalige Belegschaft der Münsterbauhütte ist zu sehen.

Der 17. Dezember ist ein besonderer Tag für Ulm: Er markiert nicht nur den Tag der schwersten Zerstörung der Stadt am dritten Adventssonntag des Jahres 1944. Der 17. Dezember des Jahres 2020 ist der Tag, an dem das Bauhüttenwesen in die Liste Guter Praxisbeispiele des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO aufgenommen wird.

Oberbürgermeister Gunter Czisch gratulierte dem Ulmer Münsterbauamt, das gemeinsam mit der Evangelischen Gesamtkirchengemeinde Ulm den Antrag initiiert hatte, und dankte Professor Eva Maria Seng für ihre wertvolle Unterstützung. OB Czisch: "Eine hoch verdiente und lange überfällige Auszeichnung! Das europäische Bauhüttenwesen ist faszinierend. Bereits im Mittelalter bestand ein reger europaweiter Austausch von Ideen und hochspezialisierten Bauleuten, wie es die Baumeister und Steinmetze der Gotik zu ihrer Zeit waren. Diese Tradition setzt sich in den Bauhütten der Neuzeit fort, sie sind damit lebendige Zeugnisse europäischer Kulturgeschichte und Ausdruck dessen, wofür Europa steht."

Hier ein Text von Eva-Maria Seng, die als Lehrstuhlinhaberin für Materielles und Immaterielles Kulturerbe an der Universität Paderborn das Verfahren entscheidend mit vorangetrieben hat:
"Das Bauhüttenwesen zeigt, wie die generationenübergreifende Bewahrung, Weitergabe und Förderung von Handwerkstechniken und -wissen gelingen und als Innovationsmotor fungieren kann. Mit der Anerkennung als Immaterielles Kulturerbe der UNESCO und der Eintragung in das internationale Register Guter Praxisbeispiele honoriert die Weltgemeinschaft die herausragende Bedeutung der Kulturform sowie die vorbildlichen, nachahmenswerten Maßnahmen zu ihrer Erhaltung. Die Ulmer Münsterbauhütte gehört zur Gruppe der insgesamt 18 antragstellenden Bauhütten aus fünf Staaten.

Seit 2013 ist Deutschland Mitgliedsstaat des UNESCO-Übereinkommens zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes von 2003. Bund und Länder inventarisieren seitdem die lebendigen Traditionen auf ihrem Gebiet und nominieren aus dem Bundesweiten Verzeichnis pro Jahr (maximal) eine kulturelle Ausdrucksform für die internationalen Listen der UNESCO. Dem Bauhüttenwesen ist es jetzt gelungen, die begehrte Auszeichnung bei der UNESCO zu erreichen. Dies hat der Zwischenstaatliche Ausschuss aus Vertretern der Vertragsstaaten am Donnertag, 17. Dezember, entschieden. Mit der Zuordnung zum Register Guter Praxisbeispiele wird zum Ausdruck gebracht, dass es sich beim Bauhüttenwesen um ein Modellprogramm handelt, das zum Nachahmen anregen soll. Denn Bauhütten verstehen sich auf hervorragende Weise darauf, Handwerkswissen und -können zu bewahren, weiterzugeben und fortzuentwickeln. Schlüsselelemente hierfür sind die permanente, gewerkeübergreifende Zusammenarbeit, die „Intelligenz der Hände“, die auf Technik und Erfahrung beruht, der stetige, auch grenzüberschreitende Austausch, die akribische Dokumentation und die sorgsame Vermittlung an die nächste Generation von Mitarbeitenden sowie die interessierte Öffentlichkeit.

Eine Mitarbeiterin der Münsterbauhütte bearbeitet einen Stein.

© Münsterbauamt Ulm

Die Bauhütte, die heutzutage am Ulmer Münster wirkt, besteht seit 1844. Sie restaurierte das Münster und setzte den Bau fort. Von ihr stammt der Westturm – höchster Kirchturm der Welt (161,53 m) und Wahrzeichen der Stadt –, der 1890 vollendet wurde. Seitdem sorgt sie vor allem für die Instandhaltung des Baues und wendet hierzu traditionelle Handwerkstechniken, aber auch modernste Technologien und Methoden an. Immer noch werden zünftige Bräuche und Rituale gepflegt, die eine hohe identitätsstiftende Wirkung entfalten.

Eine erste Bauhütte entstand in Ulm bereits im Zusammenhang mit der Grundsteinlegung zum Münsterbau durch Bürgermeister Lutz Krafft und Baumeister Heinrich II. Parler im Jahr 1377. Finanziert aus Mitteln des Stadtrates und der Bürgerschaft kümmerte sich diese um die Errichtung der monumentalen Stadtpfarrkirche in spätgotischer Formensprache bis zu ihrer Auflösung infolge des Baustopps ab 1543.

Die Bauhütte als lebendiger Ort innerhalb der Ulmer Stadtgesellschaft steht in ständigem Austausch mit Akteuren aus unterschiedlichen Bereichen. Zentral gelegen, unmittelbar neben dem Münster, sind das Bauhüttengebäude und die Hüttenmitarbeitenden wichtige Elemente im städtischen Leben. Über Religionen hinweg eint das Münster die Stadt Ulm und ist auch für Bürger mit Zuwanderungsgeschichte ein wichtiges Identifikationsobjekt. Darüber hinaus hat sich seit der Wiedereinrichtung der Hütte 1844 ein lebendiges Vereinswesen rund um die Münsterbauhütte etabliert, das auf bürgerschaftlichem Engagement und ehrenamtlicher Tätigkeit gründet.

Die Stadt Ulm ist im besten Sinne des Wortes ein wahrer „Hotspot“ des Immateriellen Kulturerbes. Die Bewerbung, die dem Erfolg des Bauhüttenwesens zugrunde liegt, hatte das Ulmer Münsterbauamt gemeinsam mit der Evangelischen Gesamtkirchengemeinde Ulm und dem Lehrstuhl für Materielles und Immaterielles Kulturerbe an der Universität Paderborn initiiert. Außerdem findet sich die deutsche Brotkultur, die seit 2014 im Bundesweiten Verzeichnis eingetragen ist, in Ulm im Museum Brot und Kunst prominent repräsentiert. In diesem Jahr hat das Land Baden-Württemberg die Schwörtagstraditionen in den ehemaligen Reichsstädten Esslingen am Neckar, Reutlingen und Ulm für das Bundesweite Verzeichnis vorgeschlagen – die Entscheidung hierüber fällt spätestens im kommenden Frühjahr. Für die nächste Bewerbungs- und Auswahlrunde 2021/22 gibt es ebenfalls schon Ideen, die bald spruchreif sein werden.

Hintergrund
Das Immaterielle Kulturerbe ist nicht mit dem Welterbe zu verwechseln. Beides geht auf gleichwertige UNESCO-Konventionen, einmal von 2003, einmal von 1972, zurück, die unterschiedliche Ausformungen kulturellen Erbes zum Gegenstand haben und jeweils andere Anerkennungskriterien anlegen. Auch die Aufnahmeverfahren unterscheiden sich stark. 2021 findet voraussichtlich die nächste Bewerbungsrunde zur Anerkennung von Kulturformen als Immaterielles Kulturerbe in Deutschland statt. Interessierte Gruppen, Gemeinschaften oder Einzelpersonen können sich unter anderem durch die Landesstelle Immaterielles Kulturerbe NRW an der Universität Paderborn zum Thema beraten lassen."



Autorin:
Univ.-Prof. Dr. Prof. h.c. mult. Eva-Maria Seng
Universität Paderborn
Historisches Institut
Lehrstuhl für Materielles und Immaterielles Kulturerbe
Warburger Str. 100
33098 Paderborn
Tel. +49 (0)5251 605488 (Sekr. 605464)
E-Mail em-seng@mail.upb.de
Web www.kulturerbe-forschung.de

Während man in Ulm noch gespannt auf die Entscheidung der UNESCO über die Aufnahme der Münsterbauhütte in das Immaterielle Weltkulturerbe wartete, ist eine andere Entscheidung bereits in der vergangenen Woche gefallen: Der Hauptausschuss des Ulmer Gemeinderats hat in seiner Sitzung am 10. Dezember einstimmig dafür gestimmt, die Arbeit der Münsterbauhütte künftig im städtischen Informationszentrum "m25" am Münsterplatz 25 zu präsentieren. Die Münstergemeinde hatte dem Vorschlag bereits im letzten Jahr zugestimmt und zugesagt, 230.000 Euro - die Hälfte der veranschlagten Investitionskosten- zu übernehmen.

Das vom Ulmer Büro Braun Engels ausgearbeitete Konzept der Ausstellung will die Arbeit der Münsterbauhütte auch sinnlich erfahrbar machen: Die Besucher können in einer "Aufzugskabine", die dem Originalaufzug am Turmgerüst nachempfunden ist, virtuell am Münsterturm hochfahren. Während die Turmfassade mittels Filmprojektion am Aufzug vorbeigleitet, erklärt eine Stimme aus dem Lautsprecher, worum es geht. Oben angelangt, öffnen sich die Aufzugstüren und man blickt auf eine großformatige, hinterleuchtete Aufnahme des Münsterturms mit dem Ausblick auf die Stadt und das Umland. Dieses Bild und die an dieser Stelle präsentierten Originalsteine verbinden sich zu einer Szenerie. Der bereits für das Turmjubiläum verwendete Begriff “Weitblick” die traditionelle Ulmer Geisteshaltung, die Motto des Turmjubiläums war "Hoch hinaus, um weit zu blicken".

Im hinteren Bereich der Ausstellung wird verstärkt auf die Ausstattung des Münsters und seine Kunstwerke eingegangen. Dazu erklingt das Geläut der Münsterglocken. Mehrere Monitorstelen bieten Vertiefungsmöglichkeiten zum Münsterbau, zeigen Turmrisse und Glasfenster im Detail. Besonderes Augenmerk wird auf die Arbeit der Münsterbauhütte gelegt: Das Ersetzen von schadhaften Steinen wird in mehreren Phasen, die jeweils einen Arbeitsschritt darstellen, erläutert. Hierzu werden beispielsweise bedruckte Acrylglasscheiben über die Kanten mit Licht beschickt. Dadurch entsteht der Eindruck von selbstleuchtenden, imaginären Bildern und Darstellungen.

Ganz am Ende des Ausstellungsbereichs erfahren die Besucher mehr über die Menschen, die heute in der Münsterbauhütte arbeiten. Auf einer Porträtwand mit mehreren Monitoren stellen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Münsterbauhütte sich und ihr Handwerk vor.

Die Umbauarbeiten im m25 - das derzeit wie alle Kultureinrichtungen wegen Corona geschlossen ist - beginnen in den nächsten Wochen. Die Eröffnung ist in der zweiten Hälfte des Jahres 2021 geplant. Dann wird im Haus Münsterplatz 25 nicht nur die Münster-Dauerausstellung zu sehen sein, sondern auch städtische Wechselausstellungen zu aktuellen Stadtthemen. Außerdem werden dort weiterhin virtuelle Flüge mit dem "Birdly" angeboten.