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Albert Einstein (1879 - 1955)
Die Ulmer sind natürlich stolz darauf, dass das weltbekannte Genie in den Mauern ihrer Stadt, genau gesagt im inzwischen zerbombten Haus Bahnhofstraße 20, geboren ist. Doch Einstein war nur ein relativer Ulmer.
Am 14.03.1879 kam er in Ulm zur Welt und am 21.06.1880 meldete sein Vater Hermann Einstein die Familie in München, wohin sie mittlerweile umgezogen war, polizeilich an. In anderen Worten: Einstein, der am 18.04.1955 in Princeton (USA) starb, hatte von seinen 76 Lebensjahren gerade mal 15 Monate in Ulm gelebt - eine relativ kurze Zeitspanne also.
Dennoch: "Die Stadt der Geburt hängt dem Leben als etwas ebenso Einzigartiges an wie die Herkunft von der leiblichen Mutter. Auch der Geburtsstadt verdanken wir einen Teil unseres Wesens. So gedenke ich Ulms in Dankbarkeit, da es edle künstlerische Tradition mit schlichter und gesunder Wesensart verbindet."
So höflich beschrieb Einstein am 18.03.1929, kurz nach seinem 50. Geburtstag, gegenüber der Ulmer Abendpost sein Verhältnis zu Ulm.
Welchen Teil seines Wesens er damit meinte, hat er der Abendpost leider nicht mitgeteilt. Hatte er, als er diese Feststellung formulierte, etwa das alte Sprichwort "Ulmenses sunt mathematici" (Die Ulmer sind Mathematiker) im Hinterkopf?
Immerhin hatte die Reichsstadt im 16. Jahrhundert eine Reihe durchaus qualifizierter Rechenmeister hervorgebracht. Einer davon war Johannes Faulhaber (1580 - 1635), der vermutlich seinen noch berühmteren Zeitgenossen René Descartes (Carhesius) beeinflusste.
Der wiederum träumte am 10.11.1619 in Ulm seine berühmten drei Träume, welche ihn zur mathematischen Erforschung der Naturerscheinungen veranlassten, und die ist heute in der mathematischen Physik am höchsten entwickelt. Damit wären wir wieder bei Einstein, an dessen spezieller Begabung der Ulmer genius loci vielleicht doch ein wenig mitgewoben hat.
Einsteins Vater war Kaufmann. Er gehörte zu den Mitgliedern der israelitischen Gemeinde, welche ihren protestantischen Mitbürgern anlässlich der 500-Jahr-Feier des Münsters eine Steinplastik, nämlich die Figur des Jeremias für die Skulpturenreihe im Mittelschiff schenkten. Diese Schenkung bewies die damals noch rasch fortschreitende Integration der jüdischen Bürger, die durch die Nationalsozialisten jäh und nachhaltig gestört wurde.
Jene Störung lässt sich exemplarisch nachvollziehen am Verhältnis der Stadt Ulm zu ihrem berühmten Sohn. Der war mittlerweile mit seinen Eltern von München nach Italien gezogen, hatte dann an der Kantonschule in Aarau sein Abitur gemacht, an der Eidgenössischen Polytechnischen Schule Zürich studiert, 1900 sein Diplom gemacht und 1901 die Schweizer Staatsbürgerschaft erlangt.
1905 war seine Schrift "Zur Elektrodynamik bewegter Körper" gedruckt worden, welche die "spezielle Relativitätstheorie" enthält. Im nämlichen Jahr promovierte er, drei Jahre später habilitierte er sich, 1908 begann seine akademische Laufbahn in Bern. Sie führte ihn über Zürich und Prag nach Berlin. 1916 vollendete er seine allgemeine Relativitätstheorie.
Einstein war inzwischen so berühmt geworden, dass es auch den Ulmern auffiel. Als 1920 die Presse über seine Leistungen berichtete, erkundigte sich Oberbürgermeister Dr. Emil Schwamberger bei der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen, ob "der wissenschaftlichen Arbeit Albert Einsteins tatsächlich die Bedeutung zukommt, die ihr die Zeitungsnachrichten ... zuschreiben". Das war zwar die falsche Fakultät, doch von der naturwissenschaftlichen Abteilung kam dann die richtige Antwort: Einstein sei ein "zweiter Newton".
Das genügte. Einstimmig beschloss der Ulmer Gemeinderat am 16.02.1920, "zunächst Einstein die Glückwünsche der Stadt in geeigneter Weise zu übermitteln und damit Beziehungen zu ihm aufzunehmen". Dies geschah, und artig antwortete Einstein mit einem Dankschreiben, worin er die "erfolgreiche und wohltätige Bodenpolitik" Ulms würdigte, die "im In- und Auslande vorbildlich gewirkt hat".
Im Jahre 1922 wurde Einstein mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet. Die Meldung, dass Einstein den Nobelpreis erhalten werde, veranlasste den Ulmer Gemeinderat, einer der neu zu benennenden Straßen "zu Ehren des in Ulm geborenen Schöpfers der Relativitätstheorie" den Namen "Einsteinstraße" zu geben. Als der Oberbürgermeister ihm dies 1929 in einem Glückwunsch-Schreiben zum 50. Geburtstag mitteilte, antwortete Einstein: "Von der nach mir benannten Straße habe ich schon gehört. Mein tröstlicher Gedanke war, dass ich ja nicht für das verantwortlich bin, was darin geschieht."
Vier Jahre später übernahmen in Deutschland die Nationalsozialisten die Macht. Einstein, der seit 1930 drei Monate pro Jahr in Princeton (USA) lehrte, kehrte nicht von einer Vortragsreise in die USA zurück und schickte statt dessen im März 1933 das folgende "Bekenntnis":
"Solange mir eine Möglichkeit offen steht, werde ich mich nur in einem Lande aufhalten, in dem politische Freiheit, Toleranz und Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetze herrschen. Zur politischen Freiheit gehört die Freiheit der mündlichen und schriftlichen Äußerung politischer Überzeugung, zur Toleranz die Achtung vor jeglicher Überzeugung eines Individuums.
Diese Bedingungen sind gegenwärtig in Deutschland nicht erfüllt. Es werden dort diejenigen verfolgt, welche sich um die Pflege internationaler Verständigung besonders verdient gemacht haben, darunter einige der führenden Künstler. Wie jedes Individuum, so kann auch jeder gesellschaftliche Organismus psychisch krank werden, besonders in Zeiten erschwerter Existenz. Nationen pflegen solche Krankheiten zu überstehen. Ich hoffe, dass in Deutschland bald gesunde Verhältnisse eintreten werden und dass dort in Zukunft die großen Männer wie Kant und Goethe nicht nur von Zeit zu Zeit gefeiert werden, sondern dass sich auch die von ihnen gelehrten Grundsätze im öffentlichen Leben und im allgemeinen Bewusstsein durchsetzen."
Die Ulmer Nationalsozialisten reagierten prompt: Noch im gleichen Monat benannten sie die Einsteinstraße um in "Fichtestraße". Ein Jahr später wurde Einstein die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt.
Die Judenverfolgung wurde nun auch in Ulm immer heftiger. Schon im Frühjahr 1933 kündete sich das kommende Unheil mit einem Boykott der jüdischen Geschäfte an. Viele der Ulmer Juden glaubten an einen vorübergehenden Spuk. Doch Einsteins Neffe zweiten Grades, Alfred Moos, ein Sozialist, hatte erkannt, was folgen würde. Er wandte sich um Hilfe an seinen berühmten Verwandten, der ihm half. Auch anderen Verwandten hat er für die USA so viele Bürgschaften geliefert, dass diese später nicht mehr anerkannt wurden.
Kurz nach der Befreiung vom Nationalsozialismus wurden im Juli 1945 auch die Ulmer Straßennamen von den Reminiszenzen an die Nazis befreit und in diesem Zusammenhang die Fichte- wieder in Einsteinstraße zurückbenannt. Einstein soll, als er ein Jahr später davon erfuhr, geäußert haben: "Die drollige Geschichte mit dem Straßennamen ist mir seinerzeit zur Kenntnis gekommen und hat mich nicht wenig amüsiert. Ob sich seither in der Sache etwas geändert hat, ist mir unbekannt und noch mehr, wann eventuell sich die nächste Änderung vollziehen wird, weiß aber meine Neugier zu zügeln."
Als der Ulmer Gemeinderat im März 1949 vorschlug, Einstein anlässlich seines 70. Geburtstags die Ulmer Ehrenbürger-Würde zu verleihen, ließ dieser mitteilen, dass ihm die Annahme einer solchen Ehrung im Hinblick auf die unter dem Nationalsozialismus in Deutschland begegangenen Verbrechen an seinen Glaubensbrüdern unmöglich sei. Er wollte aber nicht, dass diese Ablehnung öffentlich würde. Auch fürderhin blieb er stets höflich in seinen Korrespondenzen mit Ulm, etwa als er 1949 dem neuen Oberbürgermeister Theodor Pfitzer für die Übersendung eine Broschüre über die Feierstunde zu seinem 70. Geburtstag dankte: "Wir leben ja in einer Zeit tragischer und verwirrender Ereignisse, so dass man sich doppelt freut über jedes Zeichen humaner Gesinnung." Und stets antwortete er auf die jährlichen Glückwunsch-Schreiben der Stadt zu seinem Geburtstag. Nach und nach hat die Stadt dem wohl berühmtesten Ulmer einige Denkmäler gesetzt. Auf seinen Namen wurde das Domizil der Volkshochschule getauft, die von Inge Scholl, Schwester der Widerstandskämpfer Hans und Sophie Scholl, und ihrem Gatten, dem Graphiker Otl Aicher, mitbegründet wurde und während der 50er und 60er Jahre Ulms geistiges und demokratisches Zentrum war. Max Bill, der Gründungsdirektor der legendären, ebenfalls von Inge Scholl und Otl Aicher mitbegründeten Hochschule für Gestaltung gewesen war, stellte 1982 in der Bahnhofstraße, in deren Belag heute der Grundriss von Einsteins Geburtshaus eingelassen ist, ein Denkmal auf. Es besteht aus 24 Granit-Quadern, zwölf davon stehen für die Stunden des Tages, zwölf liegen für die Nacht. Sie symbolisieren auf diese Weise die Zeit, die im Raum so angeordnet ist, daß sie an ein (Geburts-)Haus erinnern.
Gleich daneben steht eine Gedenktafel mit Einsteins Kopf in Gestalt eines etwas schief geratenen Bronze-Reliefs und der Aufschrift: "A gift from the people of India through Calcutta Art Society".
Und schließlich bleckt Einstein noch die Zunge vor dem Behördenzentrum auf dem Zeughausgelände. Dort ist er Teil einer Brunnenplastik aus Bronzeguss (nur seine Augen sind aus Kunststoff), die der Sinsheimer Bildhauer Jürgen Gortz 1984 geschaffen hat. Außerdem verleiht die Stadt seit 1971 den mit mehreren tausend Mark dotierten "Wissenschaftspreis der Stadt Ulm".
Auch sonst schwebt sein Geist über der Stadt, wobei er nicht immer bei allen, die ihn bemühen, gleichermaßen glücklich landet. So geschah es kürzlich, als im Einstein-Haus ein Festredner in seinem Vortrag Einsteins Erkenntnis über das Verhältnis von Masse und Geschwindigkeit einflocht, dass ein zweiter Redner eifrig hinzufügte, Einstein habe ja auch noch mehr entdeckt, nämlich die Formel E = mc².